Im Auftrag der Rache
aus dem Wasser heraus.
»Ich bin es, alte Mutter – dein Kind«, antwortete eine junge weibliche Stimme ganz in ihrer Nähe.
»Was? Ich habe keine Kinder. Wer ist da?«
Sie spürte, wie Wasser über ihre Zehen floss. Und sie roch einen würzigen Atem.
»Hör auf, mit ihr zu spielen. Du siehst doch, dass sie blind ist.« Es war die Stimme eines Mannes, kaum mehr als ein Flüstern. »Schwan, hilf mir mit diesen Kleidern, bevor wir erfrieren, ja?«
»Ob blind oder nicht, sie ist eine Zeugin.«
Der Herzschlag der Frau setzte aus, als sich etwas Hartes, Kaltes gegen ihre Kehle presste. Sie wagte nicht, sich zu bewegen. Nur ihre blicklosen Augen bewegten sich wie aus eigenem Antrieb.
»Alte blinde Frau ohne Kinder«, spottete die weibliche Stimme.
» Schwan! «
Ein brennender Schmerz schoss durch ihre Kehle. Sie hustete feucht, würgte, hielt sich die Hand an den Hals und spürte heiße Feuchtigkeit zwischen den Fingern. Ihre Knie gaben nach, und sie sackte auf das Seekraut. Eine Hand rollte ins Wasser, und ihr Mund stand offen wie bei einem gestrandeten Fisch.
»Sie sollte mir dankbar sein«, war das Letzte, was sie je hörte.
*
Hunderte Menschen verstopften die Straßen und drängten sich in heilloser Verwirrung um den Großen Kanal. Sie kämpften um die wenigen Plätze in den letzten Booten, die bereit zum Ablegen waren, und auf den Fähren, deren Mannschaft tapfer genug war, zur Insel zurückzukehren.
Ché sah Einwohner, die so verzweifelt waren, dass sie ihre Familien auf behelfsmäßige Flöße setzten, die kaum mehr als Matten aus Seekraut mit darübergelegten Holztüren waren. Frauen hielten ihre Babys fest im Arm, Kinder trugen Körbe, Töpfe, Leinen, an denen kläffende Hunde hingen, und Großeltern murmelten Gebete.
Die khosische Armee hatte sich in der Zitadelle im Herzen der schwimmenden Stadt sowie in den angrenzenden Straßen und Gebäuden eingerichtet. Die Heimatwache von Tume bemühte sich, eine gewisse öffentliche Ordnung aufrechtzuerhalten, während Soldaten aus der Armee trunken und übermüdet herumtaumelten, in den Gassen urinierten, wie Kinder in den Zisternen platschten oder mit Prostituierten vögelten, die vor Verzweiflung bereit waren, für ein paar Münzen noch etwas länger in der Stadt zu bleiben. Ché trat über einen Rotgardisten hinweg, der mitten auf dem Bürgersteig schnarchte, und unter der Markise eines Ladens bemerkte er einen kurzen Kampf zwischen zwei Männern. Der eine taumelte zurück; ein Messer stach in seinem Schenkel.
Das waren die Nachwehen der Schlacht, wie Ché vermutete. Es waren Männer wie er selbst, bis auf die Knochen erschöpft vom Kampf um ihr Leben und so aufgedreht, dass sie keine Ruhe fanden. Sie schienen kaum dieselben Männer zu sein, die ihn als ganze Armee in der vergangenen Nacht so beeindruckt hatten.
Eine Tür wurde aufgeworfen, als er gerade an der Einmündung einer Gasse vorbeiging, und ein in Rauch gehülltes Paar taumelte heraus. Musik und Gelächter folgten ihnen aus dem Inneren des Hauses. Ché blieb stehen und warf einen Blick auf das Schild über der Tür. Zu Calhalees Erholung stand dort über dem Bild einer Frau mit welligem Haar, aus deren Mund ein Fisch baumelte.
Irgendwo hatte er diesen Namen schon einmal gelesen. Calhalee . Das war die Gründungsmutter von Tume; ihre zwanzig verhungernden Kinder waren die Ahnen der Hauptklane dieser Stadt.
Ché näherte sich der offenen Tür und trat nach drinnen. Er stieg einige hölzerne Stufen hinab und befand sich nun in einem ausgedehnten Kellergeschoss, das allerdings kaum groß genug war, um die Hunderte von Soldaten zu beherbergen, die sich von Wand zu Wand drängten. Die Männer waren betrunken und aufgewühlt, und jeder versuchte der Lauteste zu sein und die Kapelle, die auf der Bühne spielte, zu übertönen. Ché roch den feuchten Schweiß in der Luft sowie den Rauch von Hazii und Teerholz, der so dicht wie Wolken war.
Hier konnte Ché kaum nachdenken, und darüber war er froh. Er trat auf die Theke zu, die an der linken Seite des langen Raumes verlief. Dort hatten sich die Offiziere versammelt. Sie hockten auf Stühlen oder lehnten sich dagegen, und zwischen ihnen befanden sich etliche Prostituierte. Ché rutschte aus und schaute hinunter auf eine dunkle Pfütze. Dabei bemerkte er, dass dieser Teil des Bodens aus Glas bestand. Eine breite, mit Holz eingefasste Öffnung war hier in das dicke Seekraut geschnitten worden. Zwischen den Stiefeln sah er ein geisterhaftes Glimmern im
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