Im Auftrag der Rache
führte.
Deshalb warf sich Ché trotz seiner großen Müdigkeit in dieser Nacht lange von der einen Seite auf die andere und fand kaum Schlaf. Er musste immer wieder an seine Mutter in Q’os und an Phantome mit Garotten denken, die auf sie zuschlichen. Und er dachte an seine Kindheit, die er innerhalb der Mauern des Sentiatentempels verbracht hatte. Er hatte keine anderen Kinder zum Spielen gehabt, war gelangweilt vom endlosen Unterricht über Mhann gewesen und durch die gelegentlichen Reinigungen abgehärtet worden.
Vor allem aber dachte er daran, dass er von alldem noch immer nicht frei war. Ihm war klar, dass der Orden das Desertieren eines Diplomaten niemals erlauben würde.
Sascheen würde die Zwillinge auf ihn ansetzen. Vielleicht waren sie schon unterwegs.
Irgendwann in der Nacht hörte er, wie Asch im Nachbarzimmer etwas umstieß. Er lauschte auf die Schritte des alten Mannes, der nun die Treppe hinunterschlich, dann hörte er Klappern und Rasseln aus der Küche. Die Schritte kehrten zurück in den ersten Stock, und die Tür zum angrenzenden Schlafzimmer wurde wieder geschlossen.
Der R o ¯ schun war eine weitere Sorge, die Ché beschäftigte.
Am Ende gab er den Versuch auf, einschlafen zu wollen. Ächzend erhob er sich und rieb sich durch das Gesicht, damit er richtig wach wurde.
Nebenan lag Asch eingewickelt in seine Laken und atmete schwer im Schlaf. Neben dem Bett standen eine leere Weinflasche und ein Topf mit etwas, das wie Honig roch. Der Farlander hustete mehrmals, kratzte sich unter dem Laken, erwachte aber nicht.
Ché nahm das Laken, das er selbst benutzt hatte, und legte es locker über den Schlafenden. Dann kehrte er in sein eigenes Zimmer zurück und suchte in seinem Rucksack nach der kleinen, eingewickelten Flasche mit Wildholzsaft. Als er sie gefunden hatte, versuchte er sich daran zu erinnern, wie viel er davon nehmen musste, um das Klopfen seiner Pulsdrüse zu unterdrücken, denn er hatte dieses Zeug noch nie benutzt. Es war leicht, zu viel davon zu nehmen, das zumindest wusste er, und zu viel konnte den Selbstmordimpuls auslösen, der ansonsten nur dem Willen unterworfen war.
Er träufelte sich einen kleinen Klecks auf die Zunge und legte die Phiole zurück in seinen Rucksack, den er unter das Bett schob, wo er in Sicherheit war. Der Wildholzsaft schmeckte faulig und bitter.
Ché vergewisserte sich, dass seine Pistole geladen war, und steckte sie in den Halfter. Sein Mantel war noch immer nass. Er schaute durch das Fenster in den Himmel und sah die Sterne zwischen den Wolkenfetzen. Dann öffnete er das Fenster und hing den Mantel zum Trocknen hinaus.
Der Saft kitzelte auf seiner Zunge, als er die Treppe hinunter ins Erdgeschoss des großen Hauses stieg und durch die Vordertür und das Tor des Vorgartens trat. Auf dem nassen Bürgersteig blieb er einen Moment lang stehen und lauschte dem Kanonendonner aus dem Osten.
Dann blickte Ché in die entgegengesetzte Richtung. Das nahe, schwarze Wasser des Sees war zwischen zwei Häuserreihen zu erkennen. Es zog ihn an, und er ging die Straße hinunter, überquerte die breite Hauptstraße und betrat das Ufer aus Seekraut, bis er mit den Füßen im Wasser stand.
Lagerfeuer glitzerten überall am Ufer auf der anderen Seite. Noch immer fuhren Boote hinaus und in hoffentlich sicherere Gewässer.
Ich sollte auf einem dieser Boote sein , dachte er verbittert. Ich sollte so weit wie möglich von hier weg sein .
Widerstrebend drehte sich Ché um.
Er betrachtete die fernen Lichter und den Lärm aus dem Herzen der Stadt und fragte sich, wie viel Zeit ihm noch blieb, bis sie ihn erreicht hatten.
*
Die alte Frau hockte am Ufer der schwimmenden Insel. Sie befand sich knietief im Wasser, hatte sich die Röcke um die Schenkel gewickelt und schnitt mit einem Messer einen Strang Seekraut ab, den sie in einen Korb neben ihr warf.
Einen Augenblick lang stellten die Kanonen das Feuer ein, das aus der Richtung der knisternden Brücke drang. Die alte Frau hörte ein leises Plätschern nicht weit von ihr entfernt, und dann ertönte ein Geräusch von ablaufendem Wasser.
Sie hielt in ihrer Tätigkeit inne und schaute auf, während sie die freie Hand auf den Korb stützte, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren.
»Wer ist da?«, wollte sie mit zitternder, altersschwacher Stimme wissen.
Niemand antwortete ihr, aber sie spürte, dass jemand in ihrer Nähe war und sie beobachtete. »Wer ist da?«, fragte sie wieder und machte ein paar Schritte nach hinten
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