Im Auftrag der Rache
dachte sie. Ihre Tante und ihre Schwestern wären entsetzt darüber. Und ihre Mutter, und ihr Verbündeter …
Löckchen wandte den Blick von dem Kästchen mit Schlack ab, und ein plötzliches Glimmern lag in ihren Augen.
Sie fragte sich, warum sie nach Bar-Khos gegangen war. Der Hafen von Al-Khos war dem Lager der Flüchtlinge näher gewesen als diese Stadt. Doch irgendein Drang hatte sie dazu bewogen, barfuß und allein bis in den Süden der Insel zu reisen, wobei sie oft nur durch Glück oder die Freundlichkeit eines Fremden den vielfältigen Gefahren entgangen war.
Löckchen kannte den Grund dafür nicht, aber ein Teil von ihr hatte nach Bar-Khos und dem legendären Schild gehen müssen – in diese Stadt, die sich im ewigen Belagerungszustand befand und den Streitkräften von Mhann standhielt, sogar jetzt noch, wo die Reichsarmee sich an der Ostküste sammelte und die Insel erobern wollte.
Sie hatte die Khosier und ihre Lebensart schätzen gelernt. Zuerst hatte sie der Hilfe misstraut, die sie den Bootsflüchtlingen aus Lagos gewährt hatten. Doch schon nach kurzer Zeit hatte Löckchen begriffen, dass Großzügigkeit ein Wesenszug dieser Leute war, und trotz ihres widersprüchlichen Stolzes und ihrer Härte waren sie überdies noch bescheiden.
Sie schienen zur Melancholie zu neigen, waren aber auch Romantiker, so dass sogar ihre Soldaten gleichermaßen Poeten und Liebhaber wie Trunkenbolde und Selbstmörder sein konnten. Sie genossen ihre Freiheit, hielten aber viel von Zusammenarbeit und Gemeinschaft. Sie zogen die Familie und ein einfaches, friedliches Leben allem anderen vor. Über denjenigen, die wie die Michinè-Adligen reich und mächtig waren, wurde oft mit einer Art von bitterem Mitgefühl gesprochen, als ob die bemalten Männer und Frauen keines guten Geistes und von ihrem eigenen Verlangen, die anderen zu beherrschen, unterjocht und gequält würden.
Aus Gesprächen mit anderen Flüchtlingen, die hier lebten und die mercischen Inseln bereist hatten und gut kannten, hatte Löckchen erfahren, dass es bei den anderen Völkern der Freien Häfen, bei denen es keine Adligen gab, genauso oder sogar noch besser war. Das konnte sie sich nur schwer vorstellen.
Löckchen warf wieder einen Blick auf das Schlack in ihrem Schoß. Beim Frühstück hatte einer der Mieter gesagt, dass die Angreifer aus der Sechsten Armee stammten. Das waren dieselben Männer, die Lagos verwüstet hatten.
Löckchen dachte an das brennende Dorf, an den blassen, vom Rauch verschleierten Himmel. An die Schreie ihrer Familie, die im allgemeinen Aufruhr untergegangen waren. An die Tränen, die ihr die Wangen heruntergelaufen waren. Lange saß sie zitternd und voller Pein im Herzen da und bedeckte sich das brennende Gesicht mit der feuchten Hand.
Als sich schließlich ein lautes Schluchzen aus ihrer Brust quälte, setzte sie sich aufrecht und schüttelte voller Selbsttadel den Kopf. Sie schniefte und fuhr sich mit der Wand über die Wange, als würde sie eine Spinnwebe wegwischen.
Sie schaute hoch zu ihrem kleinen Oreos-Schrein, und in ihr war eine Entscheidung gefallen.
»Scheiße«, sagte Löckchen.
*
Das Innere des Stadions der Waffen war größer, als sie es aufgrund der äußeren Fassade mit ihren Säulen und gerundeten Mauern erwartet hatte.
Als sie im Haupteingang stand und zur Seite gedrückt wurde, damit sie den Soldaten, die hinaus- und hineinrannten, nicht im Weg war, schaute sie auf eine Szenerie des ungebändigten Chaos. Hunderte Männer befanden sich auf dem Sandboden des Amphitheaters, in dem an jedem Narrentag die Zelrennen abgehalten wurden, und an den übrigen Tagen wurde es zur Ausbildung der Rekruten benutzt.
Sie sah Rotgardisten und Spezialeinheiten, Graujacken und Freiwillige. Viele der älteren Männer trugen Zivilkleidung. Einige steckten in dreckigen Fetzen, und manchen wurden gerade die Fußfesseln entfernt. Zwischen ihnen rannten Soldaten mit Ausrüstungsgegenständen in den Armen hin und her und warfen sie auf etliche Haufen im Sand. In alldem schien keinerlei Ordnung zu herrschen. Doch einige Männer brüllten Kommandos, als ob sie den vollen Überblick hätten.
Löckchen drückte sich noch dichter gegen die Mauer, als eine Kompanie aus Rotgardisten in Reih und Glied einmarschierte. Einige der Männer pfiffen und johlten ihr zu, als sie vorbeistapften, obwohl sie die einfache Jungenkleidung trug, die sie bei ihrer Ankunft in der Stadt angehabt hatte. Sie senkte den Kopf und eilte an ihnen vorbei in
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