Im Auftrag der Rache
dem alten und schönen Hochzeitsanzug steckte. Die Schuhe waren frisch poliert und die Haare säuberlich über den kahl werdenden Kopf gekämmt.
Vor seiner Brust hing der hölzerne Delfin-Talisman, den ihre Mutter einst geschnitzt und getragen hatte.
*
An dem Morgen, als die Soldaten kamen, war Löckchen draußen und pflückte Sechsglöckchen auf dem Feld, von dem aus sie den Ort namens Hart überblicken konnte, zu dem ihre Tante sie nach dem Tod ihres Vaters gebracht hatte.
Sie hoffte, mit dieser kleinen blauen Pflanze die Gefahr einer Schwangerschaft abwenden zu können, denn sie traf sich inzwischen heimlich mit einem Mann aus dem Ort; es war ein verheirateter Fuhrmann, der doppelt so alt wie sie selbst war. An jenem Morgen war sie weit gewandert, hatte die Hänge abgesucht und viele stille Stunden damit verbracht, sich langsam die Taschen mit den Blumen zu füllen.
Erst bei ihrer Rückkehr bemerkte sie den Rauch, der den Himmel wie Gewitterwolken erfüllte. Sie raffte die Röcke, eilte über den Kamm des letzten Hügels und keuchte verständnislos, als sie das sah, was vor ihr lag.
Der Ort stand in Flammen. Soldaten umgaben ihn wie weiße Flecken, und sie bewegten sich auf die Häuser zu.
Die Schreie der Bewohner stiegen wie Vogelrufe in den Wind.
Löckchen dachte an ihre Tante und ihre Schwestern, die noch dort unten waren. Sie dachte an ihre Gesichter, als die Soldaten und die Flammen auf sie zukamen. Sie krümmte sich vor Angst und glaubte, sich übergeben zu müssen.
Den ganzen Tag versteckte sich Löckchen im Gras und hörte, wie die Dorfbewohner starben, obwohl sie sich die Ohren zuhielt. Manchmal wurden ihre Schuldgefühle so stark, dass sie aufstehen und den anderen helfen wollte. Aber jedes Mal erstarrte sie und konnte sich nicht bewegen. Sie weinte, bis sie keine Tränen mehr hatte, und dann fühlte sie sich taub und regte sich nicht mehr.
Im verdämmernden Licht des Abends zogen sich die Soldaten zurück; auf ihren Wagen türmte sich die Beute. Der Ort hinter ihnen war nur noch eine rauchende Wüste.
Löckchen wartete eine weitere Stunde, bevor sie sich hinunter in die Ruinen wagte.
Sie war geblendet vor Tränen, rang vor Kummer nach Luft und konnte ihre Familie in dem schwelenden Trümmerhaufen, der einst ihr Zuhause gewesen war, nicht finden.
*
Danach führte sie ein verwildertes Leben und wanderte ziellos zwischen den Trümmern und Ruinen ihres Heimatlandes umher. Ihr Verstand war ein wenig verwirrt. Die Zeit war für sie ein einziger, ewiger Augenblick.
Eines Tages wanderte Löckchen gerade am Strand entlang, als sie einen großen Mann mit dichtem Bart vor sich sah. Sie war noch vernünftig genug, sich sofort flach auf den Boden zu werfen.
Aber es war zu spät gewesen, wie sich herausstellte. Der Mann kam zu der Stelle, wo sie mit dem Gesicht gegen das raue Gras der Dünen gepresst lag.
»Es ist alles in Ordnung«, sagte er sanft zu ihr. »Ich werde dir nichts antun, Mädchen.«
Sie schaute hoch in ein müdes, wettergegerbtes altes Gesicht. Die Stimme des Mannes klang seltsam, aber vielleicht empfand sie das nur so, weil sie so lange niemanden mehr reden gehört hatte.
»Komm mit mir«, sagte der Mann und streckte die Hand aus. »Wir müssen gehen.«
Löckchen kletterte auf die Beine, drehte sich um und wollte weglaufen.
Geh mit ihm .
Sofort geriet sie ins Schwanken.
»Es ist alles in Ordnung«, wiederholte er und ergriff vorsichtig ihren Arm. »Komm, wir müssen von hier verschwinden.«
Er führte sie zu einer Bucht und einem kleinen Kiesstrand. Ein Fischerboot dümpelte auf dem Wasser. Männer und Frauen wateten durch die Wellen und kletterten an Bord.
Der Mann führte sie hinaus ins Wasser. Löckchen zuckte zusammen, als es gegen ihre Waden schlug.
»Noch eine!«, rief er zu jemandem, der sich bereits an Bord befand, und einige Köpfe drehten sich ihr zu. Sie sah Männer und Frauen mit geröteten Augen, zerzausten Haaren und ausgemergelten Gesichtern. Niemand sprach ein Wort, als sie ihr ins Boot halfen. Löckchen fand einen Platz zwischen den Bündeln mit Habseligkeiten. Sie setzte sich und zog die Knie gegen die Brust.
»Sind das alle?«, fragte der Mann.
»Ja, Skipper«, erwiderte ein anderer. »Und jetzt sollten wir endlich von hier verschwinden, solange es noch geht.«
Zwei Männer gingen an die Ruder und lenkten das Boot durch die Wellen der Bucht in die Brecher dahinter. Das Segel wurde entrollt, und flatternd fing es den Wind ein, der vom Land her blies. Bald
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