Im Auftrag der Väter
noch nicht klar war, wie sich der Mann Samstagnacht Zugang zum Haus der Niemanns verschafft hatte, beschäftigte sie. Nach allem, was sie über ihn wussten, gab er sich keine Mühe, seine Spuren zu verwischen – Fingerabdrücke an der Terrassentür, Schuheindruckspuren im Rosenbeet, eine Zigarette im Garten, falls sie von ihm stammte. Und doch existierte
bislang kein Hinweis darauf, wie und wo er das Haus betreten hatte.
Und wann.
Sie zog das Funktelefon hervor, rief den Kriminaldauerdienst an, bat um zwei Kollegen von der Kriminaltechnik.
Vielleicht mussten sie einfach nur genauer suchen.
Sie war mit Paul Niemann verabredet, doch der war nicht da. »Er ist zum Arzt«, sagte Henriette Niemann, nahm ihr Jeansjacke und Umhängetasche ab, führte sie ins Wohnzimmer, lenkte sie zu einem Sessel, bot ihr Kaffee, Tee, Saft, Milch an, oder mögen Sie Cola, wir haben auch Cola ...
»Leitungswasser genügt, danke.«
Während Henriette Niemann in der Küche war, sah Louise sich um. Auch hier viel Glas und viel Grün, drinnen wie draußen, ein Sofa und drei Sessel aus hellbraunem Leder um einen gläsernen Couchtisch, halbhohe Regale aus Glas, ein paar Bücher, ein paar CDs, Pflanzen in jeder Größe, Farbe, Form. An der Wand ein Kalender in Postergröße mit einer Alpenlandschaft, Fotos von zwei Teenagern, auf dem Couchtisch
Badische Zeitung
und
Brigitte.
Wie das ganze Haus war das Zimmer elegant, fragil, für ihren Geschmack zu aufgeräumt.
Sie setzte sich, blickte in den Garten hinaus. Vor der Terrasse das Rosenbeet, links eine Hecke, am hinteren Ende Bäume und Gebüsch, dann ein Zaun. Jenseits davon Felder, die im Grau zum Schönberg anstiegen. Sie versuchte sich vorzustellen, wie es war, wenn man am Samstagnachmittag von der Kaffeetasse aufblickte und einen Fremden in seinem Garten stehen sah. Wenn man die Augen aufschlug und in der Dunkelheit seines Wohnzimmers die Stimme eines Fremden hörte.
Erinnerungen stiegen auf – ein Nachmittag im Sommer, zwei Fremde in ihrer Wohnung, der Amerikaner und der falsche Marcel, die eingedrungen waren, während sie geschlafen hatte. Monatelang hatte sie sich nicht mehr sicher gefühlt daheim, verletzbar, hatte die beiden in ihrer Wohnung zu spüren geglaubt, unsichtbare Schatten, die sich in ihrem Inneren niedergelassen hatten.
Henriette Niemann kehrte mit einer Karaffe Wasser, zwei Kristallgläsern und Keksen zurück.
»Wann kommt Ihr Mann?«
»Na ja, je nachdem.« Henriette Niemann hielt ihr mit einem freundlichen Lächeln die Kekse hin. »Hier, nehmen Sie.«
Louise nahm. »Je nach was?«
Henriette Niemann setzte sich schweigend. Sie hatte ein kleines, gepflegtes Gesicht, kleine, wache Augen. Das braune Haar war modisch kurz, das grüne Kostüm ein bisschen spießig. Sie mussten etwa gleich alt sein, doch Henriette Niemanns Leben unterschied sich grundlegend von ihrem. Ehemann, Kinder, staub- und asselfreies Eigenheim, geregelter Tagesablauf, Kristallgläser, grünes Kostüm. Wenn es Kanten in ihrem Leben gegeben hatte, dann waren sie abgeschliffen oder gut versteckt hinter Funktionalität.
»Je nachdem, wie lange er ...« Henriette Niemann brach ab. Plötzlich schien die Funktionalität lahmgelegt. Die Augen und die Hände hielten still, in dem gepflegten Gesicht lag eine Andeutung von Erschöpfung.
Louise wartete kauend.
Henriette Niemann zuckte die Achseln. »Er ist zu den Russen nach Landwasser.«
Louise nickte, trank einen Schluck.
Er wolle sich, sagte Henriette Niemann, nicht ausschließlich
auf die Polizei verlassen. Die Polizei kümmere sich, habe er gesagt, aber sie könne nicht genug tun. Die können nicht den ganzen Tag und die ganze Nacht auf uns aufpassen, das können sie eben leider nicht. Er glaube, dass er den Mann bei den Russen finden werde, wenn er nur oft genug hinfahre. »Ich habe gesagt, und dann, Paul, was tust du dann? Lass es bitte, die Polizei hat alles im Griff, und ich werde die ganze Woche lang keinen Schritt aus dem Haus machen, und dann wollen wir mal sehen. Aber er hat gesagt, er muss nach Landwasser. Er muss es versuchen.«
Louise nickte erneut. »Hat er ein Handy dabei?«
»Ja.«
»Dann sagen Sie ihm bitte, er soll nach Hause kommen.«
»Ja«, erwiderte Henriette Niemann, und es klang erleichtert.
Sie waren vor vier Jahren hergezogen, erzählte Henriette Niemann, vom Dorf München ins Dorf Freiburg, auf ihr Drängen hin, zugegeben, aber mittlerweile hatten sich alle gut eingelebt, selbst Paul, der vorher noch nie
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