Im Auftrag der Väter
umgezogen war, zweiundvierzig Jahre lang in seinem Geburtshaus in München-Giesing gelebt und dann natürlich Schwierigkeiten gehabt hatte, sich in der neuen Heimat zu akklimatisieren. Aber am Ende war er einverstanden gewesen, zumal er als Kommunalbeamter problemlos zur Stadt Freiburg hatte wechseln können und sie erst umgezogen waren, nachdem er eine Stelle beim Bürgerservice in Aussicht gehabt hatte.
Louise hörte schweigend zu. Sie dachte an die Kommentare der Kollegin Hesse. Seit vier Jahren schon? Erst vier Jahre? Ein trauriger, apathischer Mann, hatte Hesse geschrieben.
Keiner, der sich akklimatisiert hatte.
»Es ging nicht anders«, sagte Henriette Niemann.
Louise nickte. Nicken schien ein probates Mittel zu sein, um Henriette Niemann zum Sprechen zu animieren.
Jemand habe, erzählte Henriette Niemann, den Schreibwarenladen ihres Bruders in Freiburg übernehmen müssen, der einen Herzinfarkt erlitten habe, und wer hätte da einspringen sollen, wenn nicht die Familie? Nein, es sei leider nicht anders gegangen. Die Frau habe den Kranken gepflegt, die Schwester den Laden übernommen.
»Und Ihr Bruder? Wie geht es ihm jetzt?«
»Er ist vor drei Jahren gestorben.«
Louise nickte.
»Und meine Schwägerin ...« Henriette Niemann lächelte zärtlich. »Sie ist ein lieber Mensch, aber vollkommen überfordert, wenn’s ums Geschäftliche geht. Sie arbeitet stundenweise im Laden ... Er gehört nach wie vor ihr, ich bin bei ihr angestellt. Aber sie kommt immer seltener. Manchmal kommt sie wochenlang gar nicht. Sie findet sich noch nicht wieder zurecht im Leben.«
Louise zog die Keksschale auf ihren Schoß und lehnte sich zurück. »Mein Bruder ist auch gestorben. Hat sich mit vierundzwanzig auf einer vereisten Landstraße in Frankreich mit dem Auto überschlagen.«
»Wie schrecklich ...«
»Man vergisst es nie.«
»Man vergisst es. Wenn man es vergessen will, vergisst man es.«
»Ich nicht. Ich vergesse so was nicht.«
Henriette Niemann schmunzelte und schwieg. Weil Sie nicht wollen?, schien ihr Schweigen zu besagen. Louise zuckte die Achseln. Möglicherweise war das eines ihrer Probleme, das Klammern an Vergangenes. Doch da sie mittlerweile
ja ausgesprochen gelassen war, würde sie auch das Klammern irgendwann in den Griff bekommen.
»Vor eineinhalb Jahren hab ich einen neuen Bruder bekommen«, sagte sie. »Hat denselben Namen wie der alte, dieselben Haare, dieselben Augen, ist aber erst acht. Tja, so ist das Leben.« Sie lächelte, doch Henriette Niemann erwiderte das Lächeln nicht. Schweigend blickten sie sich an. Die Erschöpfung in Henriette Niemanns Gesicht hatte die Augen noch kleiner gemacht, Falten, die vorhin nicht da gewesen waren, in ihre Haut gezogen. Sie war in den Sessel hineingesunken, ihre Hände lagen reglos im Schoß.
Louise nickte.
»Helfen Sie uns«, sagte Henriette Niemann.
Dann kamen die Kollegen von der Kriminaltechnik, der junge, mürrische Steinle, der ältere, schlaksige Lubowitz, beide nach starken Zigaretten und starkem Kaffee riechend, beide Kaugummi kauend und gekleidet, als wären sie farbenblind und stellten ihre Garderobe in Mülltonnen zusammen. Louise empfing sie an der Haustür. Aus dem Tatortkombi hatten sie an Utensilien mitgebracht, was sie zu brauchen glaubten, viel war es nicht. »Bonì, hier ist seit Samstag die Königin von Saba samt Hofstaat durchgelatscht«, sagte Steinle mit knarziger Raucherstimme.
»Das ließ sich leider nicht vermeiden.«
»Wenn du das sagst.«
Sie wartete an der Tür, während Steinle und Lubowitz die weißen Mikrospurenanzüge überstreiften, die Schuhüberzüge anlegten. Trotz Königin von Saba: Ein Techniker würde einen Tatort niemals ohne Spurenschutz betreten. Techniker waren eigenartige Leute, und meistens war das gut.
Sie führte sie in die Diele.
»Keinen Schritt weiter, Bonì.« Steinle deutete auf Henriette Niemann, die eben aus der Küche trat. »Das gilt auch für Sie.«
Henriette Niemann öffnete den Mund, schloss ihn.
»Irgendwelche Kollegen da, Bonì?«
»Nein, ich bin allein.«
Steinle stellte seinen Alukoffer ab. »Also, was willst du?«
Sie wollte, dass sie sich den ersten Stock und das Fernsehzimmer im zweiten anschauten. Sie hatten seine Fingerabdrücke gesehen, die zerschnittenen oder zerkratzten Finger, sie würden ähnliche Abdrücke erkennen. Seht euch die Türklinken an, den Geländerhandlauf, die Wände, Gegenstände, die man vielleicht berührt, wenn man davorsteht. Bilder, Fotos, das
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