Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Auftrag der Väter

Im Auftrag der Väter

Titel: Im Auftrag der Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bottini
Vom Netzwerk:
hatte die Stadt kein Geld. Sie hob die Hände. Sprachkurse waren wichtiger. Lahr tat viel, Stadt, Kirchen, Polizei, Schulen, Ehrenamtliche. Aber es war nicht genug. Wer Integration wollte, musste mehr tun. Mehr Beratung anbieten, mehr russlanddeutsche Lehrer einstellen, mehr russlanddeutsche Angestellte bei der Stadt. Vor allem endlich einen russlanddeutschen Polizeibeamten.
    »Und meine Landsleute müssen auch mehr tun, Louise. Sie müssen Deutsch lernen. Sie müssen sich öffnen für Deutschland. Sich integrieren. Sie müssen wegziehen von Kanadaring, von Langenwinkel, von Kippenheimweiler, in gemischte Viertel. Sie müssen wieder selbstbewusst werden. Sie bringen doch so viel, Louise! So viel Erfahrung mit Russland, mit Osten! Sie kennen zwei Kulturen, zwei Sprachen, zwei politische Systeme. Sie können Deutschland helfen mit Osten! Und sie bringen Kinder, Louise!« Sophie Iwanowa breitete die Arme aus. »Neue Kinder für alte Heimat. Haben Sie Kinder?«
    »Nein. Sie?«
    »Ach, nein. Solange mein Mann kreisverkehrt geht ...« Sophie Iwanowa zuckte die Achseln.
    Im ersten Stock öffnete sie eine Sperrholztür zu einem der Laubengänge. Louise berührte ihren Arm. »Warten Sie.«
    Sie blieben stehen.
    »Gehen Sie allein weiter, Sophie. Falls Johannes Miller da ist, bleiben Sie und unterhalten sich ein bisschen. Falls er nicht da ist, holen Sie mich.«
    Sophie Iwanowas große Augen waren noch größer geworden. »Wegen Waffe«, flüsterte sie.
    Louise nickte.
    »Haben Sie auch Waffe?«
    »Gehen Sie jetzt, Sophie.«
    »Ich kann nicht«, flüsterte Sophie Iwanowa.
    »Sie können. Er wird Ihnen nichts tun.«
    »Werden
Sie ihm
etwas tun?«
    Louise schüttelte den Kopf. »Falls er da ist, werde ich einfach warten.«
    »Warten«, flüsterte Sophie Iwanowa.
    »Nur warten.«
    Sophie Iwanowa nickte.
    »Gehen Sie jetzt.«
    Louise schloss die Sperrholztür, lauschte auf Sophie Iwanowas Schritte. Sie hörte ein Klopfen, eine Tür öffnete sich, eine Frau sagte erfreut: »Ja, guck mol, wer do ist, die Sophie!«
    Die Tür schloss sich, die Tür öffnete sich, Johannes Miller war nicht zurückgekommen.
     
    Waldemar und Emma Kaufmann, beide über achtzig, kleine, verschrumpelte Menschen mit weißer, mürber Gesichtshaut, weichen, kühlen Händen, schüchtern, höflich, still. Wie ertappt standen sie in ihrem überheizten Wohnzimmer, warfen der Polizistin aus Freiburg verunsicherte Blicke zu, während Sophie Iwanowa sprach und das Mittagessen auf dem Tisch kalt wurde, Kartoffeln mit Knödeln, gedämpftes Kraut, dazu ein Glas mit Bier, eines mit Wasser. »So, also«, sagte Waldemar freundlich und schwieg wieder.
    Louise wünschte plötzlich, sie hätte zugehört vorhin, Waldemar und Emma Kaufmann aus der Wolgarepublik, vor sechzig Jahren nach Sibirien deportiert, ein weiter Weg
nach Lahr. Das Wohnzimmer erzählte, so kam es ihr vor, ein bisschen von diesem weiten, für sie so fremden Weg. Eine Handvoll Ikonen und Jesusstatuen, eine dunkelbraune Regalwand aus den Fünfzigern. Viel Plastik, viel Wachstuch, auf dem Sofa ein uralter Fuchsschwanz, darüber ein riesiges Gemälde einer Winterlandschaft. In den Regalfächern Familienfotos, Kleinpflanzen. Eine Lampe in Kerzenform, eine Keramikvase in Fischform, Wodkagläser in Fischform, das Maul nach oben, auf der Schwanzflosse standen sie. Und an der Wand neben dem Durchgang zur Küche eine babygroße Plastikpuppe mit langem blonden Haar.
    »Hören Se mol«, sagte Emma strahlend und zog die Puppe am Rücken auf.
    Die Puppe quäkte einen amerikanischen Schlager.
    Hing an der Wand und quäkte »My Darling Clementine«.
     
    Dann wurde es schwierig. Louise und Sophie Iwanowa wollten nichts essen. Deshalb wollten Waldemar und Emma Kaufmann nicht weiteressen. Vor Gästen? Unmöglich! So sind sie, sagte Sophie Iwanowa mit einem ungeduldigen Lächeln, und Louise überlegte, wen sie meinte. Waldemar und Emma? Die Deutschen aus Russland? Solche Leute? Sie standen da, blickten sich an, wussten nicht weiter. Was sollen wir bloß tun?, sagte Waldemars Blick. Sophie, tu doch was, sagte Emmas Blick. Weshalb, dachte Louise, schufen die Menschen Konventionen, die das Zusammenleben nur erschwerten? Wer Hunger hatte, sollte essen. Wer keinen Hunger hatte, sollte es lassen. Es hätte so einfach sein können.
    Sie setzte sich und sagte sanft: »Na, dann mal her mit dem Kraut.«
     
    Die Sonne schien in das Zimmer, das alte, bunte Kunststoffzimmer, ließ die Haare der Plastikpuppe leuchten, wärmte Louise beim

Weitere Kostenlose Bücher