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Im Auftrag der Väter

Im Auftrag der Väter

Titel: Im Auftrag der Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bottini
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Flüchtlingstrecks mit von Pferden gezogenen Planwagen auf schmalen ungarischen Straßen, durch verschneite Winterlandschaften.
    Und am Ende doch ein Foto aus Valpovo, einfache Holzkreuze auf einem von Gras überwucherten Friedhof, deutsche Gräber 1945 .
    Sie dachte an die Gravur in dem Zigarettenetui. »Valpovo 1945 «.
    Vielleicht der Anfang.
    Doch streng genommen hatte alles natürlich ein paar Jahre früher begonnen, am 2 .November 1942 , als Antun Lončar im bosnischen Štrpci zur Welt gekommen war.
    Gähnend ließ sie die Blätter zu Boden fallen und schob Marcels Mängelatlas hinterher. Eine Weile gab sie sich den Wörtern hin, die sie gelesen hatte, ließ sie in ihrem Kopf durcheinanderfliegen, während sie auf den Schlaf wartete, es waren eher die Wörter, die neutrale Leser wie sie ins Grübeln brachten, Wörter wie »der fleißige, treue Deutsche«, »das Volk hat seine Sendung erfüllt«, »die alten Tugenden«, »die alte Heimat«, »der Auftrag der Väter«, die Donauschwaben als »Schutzwall des christlichen Abendlandes«, das gefiel ihr besonders, »damals wie heute Schutzwall des christlichen Abendlandes«, solche Wörter.
    Der letzte Gedanke, bevor sie einschlief, galt diesem unaussprechlichen Ortsnamen, Štrpci, und sie dachte, also wirklich, diesem Ort hätten die damals auch einen zweiten, einen deutschen Namen geben können, wer sollte das denn aussprechen, Štrpci.
    Der allerletzte Gedanke galt, natürlich, Valpovo.
     
    Sie erwachte, weil jemand ihren Namen sagte, Jenny Böhm, die vor ihr kniete, ein weißes Gesicht mit panischem Blick. Louise, flüsterte sie, Louise, und Louise strich ihr mit der Hand über die Wange, über die eiskalte Haut, es war so weit, es wurde ernst, doch dann sagte Jenny Böhm, trink mit mir, Louise, komm, trink mit mir ...
    »Was?«
    »Trink mit mir, Louise, trinken wir zusammen, komm, trinken wir Davidoff, weißt du noch, Da-Da-Davidoff.«
    Louise zog die Hand zurück, Tränen der Wut und der Enttäuschung in den Augen, schloss sie, hörte Jenny Böhms beschwörendes Flüstern, Louise, komm, bitte, lass mich nicht allein jetzt. Die Stimme wurde höher, drohte zu kippen, bitte, Louise, lass mich jetzt nicht allein, trink mit mir, kam immer näher, sie spürte Jenny Böhms kalte Wange an ihrer, kalte Lippen an ihrem Ohr, bitte, Louise, nur dieses eine Mal, ein Schluck mit dir, dann kann ich aufhören, mein letzter Schluck für immer, zusammen mit dir, komm, Louise ...
    Louise schob sie von sich, richtete sich auf. »Hau ab, Jenny.«
    »Ein Schluck, Louise, ist das zu viel verlangt?«
    »Hau ab!«
    »Warum hilfst du mir nicht?«
    Louise stand auf. Ruhig, dachte sie, ruhig. Du kennst das, du weißt, was da geschieht. Du bist doch jetzt gelassen, auch mitten in der Nacht. Vor allem in der Nacht, in den Krisen.
    »Hilf mir doch!«, flüsterte Jenny Böhm.
    Louise sah auf sie herab. Die Wut und die Enttäuschung kehrten zurück, sie war zu müde für Gelassenheit.
    Jenny Böhm in
ihrem
Schlafanzug, vor
ihrem
Sofa, in
ihrer
Nacht. Und wollte sie wieder zum Trinken verführen.
    Ruhig, dachte sie. Sie ist krank, du bist gesund. Gelassen.
    Doch vor allem die Enttäuschung wollte nicht abklingen.
    »Geh wieder schlafen, Jenny.«
    Jenny Böhm senkte den Kopf, stand auf, ein kurzer, verzweifelter Blick, dann ging sie zur Tür, trat barfuß hinaus auf das Gerüst, schloss die Tür, die Metalltür der Oberschlesier in ihrer Wohnzimmerwand, ein bizarrer Moment, fand Louise, fast wie im Theater, absurdes Theater, was für ein Theater, dieses Leben, dachte sie und folgte Jenny Böhm hinaus auf das Gerüst. Da saß sie, Davidoff Classic in der Hand, blickte ihr mit großen Augen entgegen, und Louise wusste, dass alles nicht mehr ganz so schlimm war, denn Jenny Böhm wartete, würde nicht trinken, wartete darauf, dass Louise ihr den Da-Da-Davidoff aus der Hand nahm und von sich schleuderte wie im Frühling 2003 bei ihrer Sonntagsfahrt durch die Wälder nahe Oberberg.
    Sie hörte die Flasche im Hof zersplittern.
    Jenny Böhm begann zu weinen, wie sie in Oberberg manchmal geweint hatte, ohne jedes Maß, ohne jede Kraft. Louise führte sie in die Wohnung zurück, schloss die Metalltür, legte Jenny Böhm sanft aufs Sofa, legte sich daneben,
und dann warteten sie auf den Schlaf, dicht aneinander, eng umschlungen, Mutter und Kind, vielleicht auch zwei Frauen, dachte Louise noch, zwei Frauen, die ein paar Probleme mit dem Leben hatten, dem komischen Theater Leben.
    Und das war doch

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