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Im Auftrag der Väter

Im Auftrag der Väter

Titel: Im Auftrag der Väter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Oliver Bottini
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Schlafzimmer, manövrierte schlaffe Arme und Beine in einen Schlafanzug, ließ sie aufs Bett fallen, ein bisschen Rache für die Krisen in der Nacht musste
schon sein. Jenny Böhm öffnete die Augen, runzelte die Brauen, schlief wieder ein. Louise zog ein trockenes T-Shirt an, legte sich neben sie. Als sie begriff, dass sie jetzt im Leben nicht einschlafen würde, stand sie auf.
    Auf der Küchentheke lagen die Kopien aus München, lag das Foto mit dem Gesicht, das sie in der Dunkelheit auf dem Metallsteg plötzlich vor Augen gehabt hatte. Antun Lončar, der vielleicht noch in der Nähe war, in Freiburg, Merzhausen, Au, vielleicht auch längst zurückgekehrt war nach Bosnien und Herzegowina.
    Sie starrte auf das Gesicht.
    Da waren sie wieder, die Ahnungen. Nein, sagten sie, das war es noch nicht gewesen, er war noch hier. Um sich an dem Menschen, der ihn 1998 aus Deutschland fortgeschickt hatte, zu rächen. Er hatte diesem Menschen die Sicherheit genommen, dann hatte er ihm das Zuhause genommen.
    Am Ende würde er ihm das Leben nehmen.
     
    Auf dem Sofa las sie die Münchner Unterlagen ein zweites und ein drittes Mal. Irgendwann schlief sie ein, irgendwann wachte sie auf. Draußen herrschte tiefe Nacht, die Digitalanzeige des Videorekorders zeigte 3 : 43 . Sie lag auf der Seite, die Beine angezogen, in einem Chaos aus Kopien. Sie hatte wieder von den Schemen ohne Gesicht geträumt, die auf hölzernen Schiffen einen Fluss hinunterfuhren, diesmal war Valpovo ein Land, dort ließen sich die Schemen nieder, im Land Valpovo zwischen Save und Drau. Sie wusste nicht mehr, ob sie im Traum dabei gewesen war, aber sie wünschte es sich. Die Vorstellung, dass sie nicht unter den Schemen gewesen war, nicht das Land Valpovo mit ihnen erreicht hatte, tat für einen Augenblick merkwürdig weh. Sie blickte an ihrem Arm entlang, auf dem ihr Kopf lag,
knickte die Finger ein, einen für jedes Jahr Freiburg, von links nach rechts, dann noch einmal von links nach rechts, zehn Jahre ohne Unterbrechungen, davor ein paar Jahre mit Unterbrechungen.
    Was ein Wort auslösen konnte, dachte sie gähnend, dieses seltsame Wort Valpovo. Von einem Moment auf den anderen kamen ihr zehn Jahre und ein paar mehr in derselben Stadt viel zu lang vor, und sie wünschte, sie wäre irgendwann einmal aus Freiburg weggegangen, damit sie irgendwann hätte zurückkehren können und nicht erst noch weggehen musste.
    Sie grinste schief, richtete sich auf.
    Als
müsste
sie weggehen. Aus der Stadt, die sie liebte.
    Ihr Vater und ihre Mutter hatten immer weggehen wollen, der eine dahin, die andere dorthin, vielleicht war sie deshalb nie auf die Idee gekommen, Freiburg für längere Zeit zu verlassen.
    Sie sah nach Jenny Böhm, die auf dem Bauch lag und lautlos schlief. Krisen in der Nacht, sie erinnerte sich gut, die Krankheit und die Krisen, das kam im Doppelpack, das war das Schlimme.
    Die Scham, die Einsamkeit.
    Die furchtbare Einsamkeit, wenn man zu verstecken und zu lügen begonnen hatte.
    Dann trank man, um nicht mehr einsam zu sein.
    Sie dachte, dass Jenny Böhm auf ihre Weise wieder zu kämpfen begonnen hatte. Sie war hier, bei ihr, nicht mehr allein, umgeben von Dunkelheit und Toten. Nein, sie hatte Schutz gesucht in der Strenge und Selbstgerechtigkeit der Louise Bonì, und da floh freiwillig ganz sicher nur der hin, der bereit war zu kämpfen, ansonsten machte das doch keinen Spaß.
    Sie schlief, auch das ein gutes Zeichen.
    Und sie war nicht nach draußen gegangen aufs Gerüst, wo sie die Flasche versteckt hatte. Wo vorhin nur ein paar Sekunden gefehlt hatten.
    Während Louise ins Wohnzimmer zurückkehrte, fragte sie sich, was es mit diesem Gerüst nur auf sich hatte, ganz abgesehen von den Sekunden. Marcel, der draußen in aller Seelenruhe sein Glas Rotwein trank, jetzt Jenny und ihre Flasche, die Oberschlesier mit ihrem Bier ohnehin, und wer zu ihr wollte, musste über das Gerüst, das sich auf drei Seiten um ihre Wohnung legte wie eine Klammer.
     
    Mit Alfons Hoffmanns Fotokopien zur Geschichte der Donauschwaben machte sie es sich auf dem Sofa wieder bequem. Dem Ersten der Tod, las sie, dem Zweiten die Not, dem Dritten das Brot. Generationen hatte es gedauert, bis die Fremden aus Deutschland im Südosten zu beiden Seiten der Donau ein halbwegs erträgliches Leben geführt hatten, bis nicht mehr Hunderte und Tausende immer wieder neuen Krankheiten, Überschwemmungen, Kriegen, der Armut, dem Hunger zum Opfer fielen. Manche brachten es zu bescheidenem

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