Im Auftrag des Tigers
Nicht nach dieser Irrsinns-Nacht. Vermutlich überhaupt nicht mehr.
Die Sony lag in einem der Schließfächer des U-Bahnhofes am Raffles Place verwahrt, der Nike-Anzug, den sie für den Sampan-Einbruch benutzt hatte, ruhte nicht weit davon in einem Abfallkorb. Nach allem, was geschehen war, und nach den vielen Polizeistreifen, die sie bisher beobachtet hatte, schien es ihr besser, auch das Schließfach zu vermeiden. Gute alte Sony? Nun, die Schließfachschlüssel konnte sie irgendjemandem aus der Organisation geben. Das Wichtigste blieben ja doch die belichteten Kassetten. Nicht nur die Aufnahmen der Sampan-Aktion waren darauf aufgezeichnet, sondern auch die Interviews und Informations-Schüsse, die sie in den vierzig Stunden seit ihrer Ankunft in Singapur aufgenommen hatte.
Und jetzt? Was weiter? …
London anrufen?
Von wo?
Vor allem: Sich einen guten, ungestörten Abgang aus dieser Stadt sichern. Ja, aber wenn es stimmte, was sie vermutete, wenn die ganze Polizei aufgescheucht war, weil es irgendwo ein Leck gegeben und die Gegenseite Wind bekommen hatte, konnte das ganz schön schwierig werden. Also was? … Sie war zu müde, um einen klaren, vernünftigen Gedanken fassen zu können.
Sie schob das Glas Orangensaft zur Seite und griff erneut zum Kaffee. Beim ersten Schluck hatte sie sich die Zunge verbrannt, jetzt hatte er abgekühlt. Sie trank die halbe Tasse in einem Zug leer, goß nach, und es wurde ihr besser. Sie leistete sich eine Zigarette. Nikotin fördert das Denken …
Sie lehnte sich zurück und blickte sich um.
Der Raum, in dem sie saß, hatte violett-grüne Wände, violett-grüne Stuhlbezüge und einen violett-grünen Teppich. Er war weit und niedrig und fast vollkommen leer. Die Meute der jungen Geschäftemacher und Wichtigtuer, die sich gerade noch um das Frühstücks-Buffet gedrängt hatte, war in die Broker- oder in die Export- und Immobilien-Agenturen an der Orchard Road zurückgekehrt. Die kleine chinesische Kellnerin zupfte an ihrer schwarzen Kinnschleife, der Keeper polierte die Gläser. Zwei Tische weiter saß ein großer, rotgesichtiger Tourist und starrte sie mit der dumpfen Ergebenheit eines hungrigen Hofhundes unverwandt an. Ein paar andere Touristen beschäftigten sich mit ihrem Frühstück.
Es war kurz vor neun. Die Klimaanlage lief bereits auf Hochtouren. Durch die Glasfront des Royal Lion Breakfast-Clubs konnte man in einen granitgepflasterten Hof sehen, in dessen Mittelpunkt drei Springbrunnen um irgendetwas Abstraktes aus Chrom und Bronze plätscherten.
Das Lions-Einkaufszentrum, zu dem das Lokal gehörte, war brandneu und todschick. Maya erlebte es zum ersten Mal. Über die Rauchglas-Fassaden krochen wie goldendurchsichtige Wanzen die Außenfahrstühle. Ein Haufen Leute stand gleich Kindern im Hof und blickte ihnen zu. Noch war der Laden geschlossen, aber in fünf Minuten, wenn er öffnete, durften sie es dann erleben … von den BMW-Cabrios im Erdgeschoß bis zu den Cacharel- und Armani-Boutiquen im achten Stock: Die Welt als Supermarkt!
Für Maya blieb eines wichtig: Der Frühstücks-Club des Lions verfügte über zwei Ausgänge. Der eine führte in die Passage, die ihn mit dem Einkaufszentrum verband, der zweite zum Hof. Und die Glasfront sorgte dafür, daß man auch auf der Hofseite stets wußte, was vor sich ging.
Sie hatte sich die SFE-Nummer auf das linke Handgelenk geschrieben. Aber vielleicht war die Linie inzwischen angezapft? Außerdem, allzu viel traute sie den SFE-Typen nicht zu. Schon gar nicht nach gestern nacht … Hatten keine Erfahrung. Idealistische Dilettanten. Und damit in derartigen Situationen gefährlich.
Sie stand auf.
Der ›Hofhund‹ hinter seinem Tomatensaft rollte die hellen Glupschaugen. Sie gab ihm den Blick mit so wütender Intensität zurück, daß er die weißlichen Lider senkte.
Sie ging hinüber zu der Kellnerin und fragte, wo sich die Telefonzelle befände. Am Ausgang zur Galerie? Um so besser …
Die Nummer, die Maya jetzt wählte, brauchte sie nicht abzulesen. Die wußte sie auswendig.
Sie drückte die Tasten und drehte sich wieder um. Alles wie zuvor … Durch die Passage zum Einkaufszentrum stürmte eine Gruppe junger Leute. Sie schloß die Tür, um dem Geschrei zu entgehen.
»Mr. Andrew's Residenz«, meldete sich eine affektierte Männerstimme.
»Könnte ich Julia Andrew sprechen?«
»Bedaure. Das scheint im Augenblick etwas schwierig. Wen bitte soll ich melden?«
»Ich bin eine alte Freundin. Es reicht also völlig,
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