Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
verabreichte es meinem Liebsten. Innerhalb von Tagen kehrte seine volle Manneskraft zurück, und von da an beglückte er mich ohne Ende.«
Alle Versuche, gezielt Fragen an sie zu richten – die genaue Formel für die Behandlung der Fallsucht –, verliefen im Sande. Rakel sprach nur über das, worüber sie sprechen wollte. Avigail, die ihr fasziniert zuhörte, stellte fest, dass das Erinnerungsvermögen ihrer Tante erstaunlich klar war. Dies schien häufig der Fall zu sein, wenn sich die Seele anschickte, den Körper zu verlassen. Dann fielen die Fesseln dieses Lebens wie die Schichten einer Zwiebel ab, und zum Vorschein kam die Vergangenheit.
Betend und eingehüllt in Weihrauchduft harrte die Familie die Nacht hindurch aus, lauschte den wundersamen Geschichten von einst.
Um Mitternacht, als Geister unterwegs waren und ganz Ugarit Lampen entzündete und beschützende Amulette an die Türpfosten heftete, schloss Rakel die Augen und holte tief, wenngleich flatternd Luft. »Als Avigail zur Welt kam …«, flüsterte sie, und ihre Stimme klang seltsam abgeklärt, wie die einer längst Verschiedenen, »… war ihr Vater, mein Bruder, mit einer Frau aus Ugarit verheiratet, die angeblich königliche Vorfahren hatte. Einen König von Ugarit, glaube ich …« Ein weiterer Atemzug, ein weniger tiefer. »Aber sie war unfruchtbar … In unserem Haus gab es eine Habiru-Sklavin, Sarah hieß sie. Mein Bruder warf ein Auge auf sie und nahm sie zu sich.«
Avigail zog die Stirn in Falten. Diese Geschichte war ihr neu. Höchstwahrscheinlich stimmte sie nicht. Rakels Verstand schien es mit tatsächlichen Ereignissen nicht mehr so genau zu nehmen.
»Als die Habiru meinem Bruder sagte, sie sei schwanger, zog die Familie in die Berge, um der sommerlichen Hitze zu entgehen. Mein Ehemann und ich schlossen uns ihnen an. Wir blieben sechs Monate. In Jerusalem, hoch in den Bergen westlich des Salzmeers, kam die Sklavin Sarah nieder …«
Rakels Stimme erstarb. Alle warteten auf die Fortsetzung. Nur Avigail schien die Tragweite dessen zu ahnen, was folgen würde. Sie merkte, wie sie den Boden unter den Füßen verlor. Nein, durchzuckte es sie. Sprich es nicht aus.
»Als wir wieder in Jericho waren«, sagte Rakel nach einem weiteren mühsamen Atemholen, »verkündete Avigails Vater, dass seine Frau niedergekommen sei. Mit einem Mädchen, das sie Avigail nannten. Er schickte Sarah fort und verpflichtete uns alle zum Schweigen. Niemand durfte erfahren, dass Avigail nicht von König Ozzediah abstammt, sondern das Blut einer Habiru in sich trägt. Und dann heiratete Avigail Yosep und ging mit ihm nach Ugarit, bekam Elias. Der wiederum heiratete Hannah, die ihm drei Töchter schenkte – Leah, Tamar und Esther. Ich würde gern wissen, was aus ihnen geworden ist.«
Rakels Brust hob und senkte sich nur noch schwach, und wenn sie Atem holte, dann in zusehends längerem Abstand. Wie gelähmt vor Entsetzen, die Gesichter abwechselnd vom Licht der vielen Lampen erhellt, dann wieder in Schatten getaucht, starrten alle auf Avigail, ihre verehrte Matriarchin, die ebenfalls von Rakels letzten Worten, die noch in der vom Rauch geschwängerten Luft hingen, völlig überrumpelt worden war.
Dies also war die unbestimmte Angst, der sich zu stellen sie nie über sich gebracht hatte. Der Grund, warum sie hatte verhindern wollen, dass Leah in Rakels Erinnerungen herumstocherte, und warum ihr die Gegenwart von Angehörigen der Habiru, dieser Nomaden, die in Zelten lebten und kein Zuhause hatten, irgendwie unangenehm war.
Hatte sie als Kind den Gesprächen der Erwachsenen entnommen, dass sie nicht von Ugarits geliebtem König Ozzediah abstammte, sondern einer Verbindung ihres Vaters und einer Habiru-Sklavin entsprungen war? Wenn dem so war, hatte sie derlei Unterhaltungen längst vergessen, das Entscheidende aber musste sich heimlich in ihre Seele eingebrannt und zu einer Abneigung geführt haben, die sie nie hatte begründen können.
Hatte sie als Fünfzehnjährige in der Nacht, da sie aus Jericho flohen, nicht gesagt: »Die Habiru sind ein ungehobeltes Volk, das sich nur darauf versteht, Zelte aus Ziegenhäuten zu errichten. Aber doch nie und nimmer Gebäude aus Stein!« Und hatte Tante Rakel sie nicht sofort zurechtgewiesen: »Es gehört sich nicht, abschätzig über ein Volk zu reden, von dem du nichts weißt.«
Avigail presste sich die Hand an den Magen. Jetzt verstand sie, was die Tante damals
gemeint hatte und warum Rakel die Nomaden
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