Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
waren.
Trompetenschmettern ließ die Menge verstummen. Sämtliche Köpfe wandten sich dem Ende des Saals zu, wo sich zwei turmhohe Türflügel aus poliertem Zedernholz öffneten. Weißgewandete Priester mit Weihrauchfässern, die beißende Schwaden verbreiteten, führten eine Prozession an, gefolgt von jungen Priesteranwärtern, auf deren Schultern die Statuen von Ugarits Schutzgöttern thronten, sowie von Musikanten, die auf Lyren, Flöten und Trommeln spielten. Hinter ihnen schritt barfüßig, demütig und ohne jegliche Begleitung Yehuda auf den erhöhten Thron am Ende des Zeremoniensaals zu, wo der blinde alte Rab ihn erwartete.
Als Yehudas Verwandte genossen Zira und Jotham das Vorrecht, zu Füßen des Rabs zu stehen. Sie strahlten vor Stolz, als die Prozession sich näherte, die Priester, Stelenträger und Musikanten nach genau einstudiertem Plan Aufstellung nahmen. Zira hatte für diesen Anlass ein atemberaubendes Gewand in Purpur mit einem darauf abgestimmten Schleier angelegt, was allgemeines Erstaunen hervorrief, da man sie nur in Schwarz kannte. Sie reckte ihr knochiges Kinn so übertrieben, als müsste sie alle Kraft aufbieten, um das Gewicht der Unmenge von Münzen zu tragen, die ihren Kopf zierten. An ihren Armen glitzerten goldene Reifen, und auf ihrer flachen Brust funkelten schwere Juwelen.
Yehuda stellte sich vor den alten Rab und schwor Ehrsamkeit und Gehorsam gemäß der Eidesformeln, die vor so langer Zeit niedergeschrieben worden waren, dass niemand mehr wusste, von wem. Und während seine sonore Stimme zu den bunt bemalten Säulen emporstieg, dachte Zira an den Tag, da er den Eid als König ablegen würde …
Als die Vereidigung beendet war, stieg der scheidende Rab, gestützt von zwei Helfern, die Stufen hinunter. Jetzt wurden die Schriftgelehrten nach vorn gerufen – die Novizen wie auch die Älteren –, und gemeinsam gelobten sie dem neuen Rab Gefolgschaft, Gehorsam und Verehrung ein Leben lang.
Daraufhin brach die Menge in Beifall und Jubel aus, die Namen der Götter wurden angerufen zum Zeichen dafür, wie sehr man die göttliche Wahl des Rabs begrüßte. Die Schriftkundigen hatten ein neues, ein junges Oberhaupt. Ugarit blieb weiterhin stark. Einmal mehr zum Wohlgefallen der Götter.
David wurde in die Gemächer des alten Rabs gerufen, dorthin, wo sie sich vor zehn Monaten schon einmal unterhalten hatten. Eingehüllt in Schatten und Rauch, weshalb auch das goldene Sonnenemblem über dem Haupt des alten Mannes kaum zu erkennen war, eröffnete der hochbetagte Schriftgelehrte das Gespräch. »Du hast mich maßlos enttäuscht, David von Lagasch. Du hast meine Hoffnungen genährt, nur um sie dann zu zerschmettern. Als du nicht vor mich getreten bist und ich mich deshalb gezwungen sah, Yehuda zu meinem Nachfolger zu bestimmen, erkannte ich, dass meine Bedenken gerechtfertigt waren: Es gibt keine Ehre mehr. Die alten Werte sterben aus. Du bist der Beweis dafür. Ich verlasse die Bruderschaft in einem geschwächteren Zustand, als ich sie seinerzeit übernahm. Hoffnung auf Rettung gibt es nicht.«
Tief getroffen sank David auf die Knie. »Ich hatte meine Gründe, nicht vor dich zu treten, Ehrwürdiger Rabbi«, sagte er mit erstickter Stimme. »Gründe, die nichts mit dir oder der Bruderschaft zu tun haben. Mein Herz musste einem anderen Ruf folgen. Aber ich bitte nicht um Vergebung. Ich habe dich und meinen heiligen Beruf in der Tat entehrt, und schon weil ich dies nie wiedergutmachen kann, wird es mir auf ewig leidtun. Und ich verspreche dir, Ehrwürdiger Rabbi, sofern dir ein Versprechen von mir noch irgendetwas bedeutet, dass ich von jetzt an der Bruderschaft dienen und sie beschützen werde. Ich werde Yehuda dienen, wie ich dir gedient habe. Ich sehe es als meine Pflicht an, diese Bruderschaft zu retten. Ehrwürdiger Rabbi, ich
werde
meine Brüder zur Rechtschaffenheit zurückführen.«
»Und was ist«, hörte David die müde Stimme fragen, »wenn dich erneut ein Herzensbedürfnis überkommt? Wenn du einem ›anderen Ruf‹ folgen und deinen Schwur brechen musst?«
»Das wird nicht mehr vorkommen. Bei der Ehre meiner Familie, bei diesem Siegel an meiner Hand, bei meiner Liebe zu meinem Beruf und dem geschriebenen Wort schwöre ich …«, stammelte David unter Tränen, »bei meiner Verehrung für dich, Ehrwürdiger Rabbi, und vor allem bei meiner Liebe zu meinem persönlichen Gott, dem alten Shubat, schwöre ich, dass ich nie wieder ein Versprechen, das ich der Bruderschaft
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