Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
verteidigte, die überall nur ungern geduldet wurden.
Ich habe mein eigenes Blut geschmäht …
»Es ist vollbracht«, erklärte der Sterbepriester feierlich und schloss Rakels ausdruckslose Augen. »Lasset uns beten, auf dass die Götter die Seele dieser Frau aufnehmen.«
Während David das Geschehen schriftlich festhielt, stimmte die Familie in den Gesang des Priesters ein und bemühte sich gleichzeitig, das, was sie als Letztes von Tante Rakel vernommen hatte, zu verdauen. Avigail hatte das Gefühl, als würde alles um sie herum in Bewegung geraten. Die Wände rückten näher zusammen, der Qualm drang in ihre Lungen ein, beengte ihre Brust. Mit gespenstisch kreideweißem Gesicht starrte Elias über das Totenbett hinweg seine Mutter an.
Gesegnete Asherah!, nahm Avigail Zuflucht zu der Göttin. Wir stammen gar nicht von den Königen Ugarits ab. Wir sind Habiru, deren Gott weder einen Namen noch eine Gestalt hat und den sie in einem gewöhnlichen Zelt anbeten.
Mein Sohn! Elias!, flehte sie ihn im Stillen an. Kannst du mir verzeihen? Da habe ich dich angehalten, stolz auf deine königliche Blutlinie zu sein, und bin doch nur die Tochter einer Habiru-Sklavin!
Ihre Enkelinnen wagte sie nicht anzuschauen – Esther, die trotz ihrer Deformation auf einen Ehemann hoffte, jetzt aber noch weniger Chancen besaß, dass dieser Wunsch in Erfüllung ging, und Leah, die sich bis vor wenigen Augenblicken durchaus hätte wiederverheiraten können, was aber jetzt ausgeschlossen war.
All dies ging Avigail durch den Kopf, weil ihr der Gesichtsausdruck des Priesters nicht entgangen war. Er drückte Verblüffung aus. Abscheu.
Ein Geheimnis, das achtundfünfzig Jahre lang gewahrt worden war. Und das dieser Mann jetzt ausplaudern würde …
Nur gut, dass dem Sterbepriester durch ein Gelöbnis Verschwiegenheit auferlegt war und er nichts von dem, was er an einem Sterbebett gehört oder mitangesehen hatte, preisgeben durfte. Allerdings galt diese Vorschrift nicht für Priester untereinander, weshalb er seinen Mitbrüdern bedenkenlos von der erstaunlichen Beichte im Hause des Elias berichten konnte. Ein einziger Priester, der sich beim neuen Rab einschmeicheln wollte, genügte, um Yehuda den brisanten Klatsch zu hinterbringen, worauf dieser zweifellos seine Mutter unterrichten würde, und sobald Zira es wusste, würden es alle wissen.
Und so kam es auch. Als sich die Bewohner von Ugarit im großen Zeremoniensaal zur Amtseinführung des neuen Rabs der Schriftgelehrten einfanden, geschah dies weniger, um Yehudas Nachfolge in das erhabene und angesehene Amt zu feiern, sondern um mitzuerleben, ob Avigail und ihr Sohn es wagen würden, ebenfalls zu erscheinen.
Der Zeremoniensaal grenzte an das Haus des Goldes. Er war weitläufiger als selbst der königliche Palast und durchzogen von mächtigen Säulen, deren Kapitelle in Form von Blumen gestaltet und bemalt waren – majestätische Blütenkränze, die die marmorne Decke stützten. Der Saal musste so geräumig sein, da alle wichtigen Rituale, religiöse wie weltliche, hier abgehalten wurden und ganz Ugarit daran teilnehmen durfte. David stand mit seinen Mitbrüdern in einem eigens ihnen vorbehaltenen Bereich. Da die Zuschauer von allen Seiten hereindrängten, war nicht auszumachen, wo Leah mit ihrer Familie sein könnte.
Wenn sie überhaupt gekommen waren. Schämten sie sich etwa, sich in der Öffentlichkeit zu zeigen? Bei Rakels Tod hatten die jungen Mädchen der Familie bitterlich geweint, aber ob über das Hinscheiden der Tante oder über deren verhängnisvolle Offenbarung vermochte er nicht zu sagen. Habiru-Blut statt königlichem! Selbst David war fassungslos gewesen und hatte erschüttert mit angesehen, wie Leah versucht hatte, die Großmutter und die Schwester zu trösten. Wie würde sich dieses Geständnis auf die Familie auswirken? Im Allgemeinen straften Kanaaniter wie auch Ägypter die Habiru mit Verachtung.
War dies etwa der finale Tiefschlag, der die Familie endgültig ins Elend stürzte?
Während sich die Säulenhalle zusehends mit lärmenden und drängelnden Menschen füllte, hielt David weiterhin Ausschau nach Leah.
Nobu, der hinter ihm stand, lauschte aufmerksam seinen Götterstimmen. Oder waren es, wie
Esther gemeint hatte, vielmehr seine eigenen Gedanken?
Diese Zeremonie ist für Ugarit kein gutes Omen. Wir trauen Ziras Sohn nicht. Er lässt sich für seine heiligen Dienste mit Geld bestechen. Gestattet seinen Brüdern, ein unmoralisches Leben zu führen. Er
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