Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
sie zu.
Leah schüttelte den Kopf. Ihr war nicht nach Wein zumute. Sie wollte einzig und allein David sehen.
»Hat Herrin Merit irgendeinen Wunsch?«
Wie Hatschepsut verfügt hatte, war Leah die Kanaaniterin in der Tat hingerichtet worden. Es war eine symbolische Enthauptung gewesen, begleitet von langatmigen Ankündigungen, dass man nunmehr die schamlosen Augen einer Kanaaniterin, die sich unerlaubt Zutritt verschafft habe, ausstechen, die Luftröhre der lästerlichen Fremden durchtrennen, die Zunge der feindlichen Spionin zum Schweigen bringen werde. Mit einer in rote Tinte getauchten Reiherfeder hatte man eine Linie um Leahs Hals gezogen, dort, wo die Axt niedergegangen wäre, und dann hatten die Magier erklärt, sie sei körperlich unversehrt und wiedergeboren in ägyptisches Leben. Sogar einen neuen Namen hatte man ihr gegeben: Merit.
Auf diese Weise hatte sie erfahren, welche Macht die Ägypter dem gesprochenen Wort beimaßen. Jetzt verstand sie auch das symbolische Abhacken von Davids Hand im Verlies. Reshef und die Priester waren wirklich davon überzeugt, dass durch die laut geäußerte Ankündigung, sie würden David die Hand abhacken, diese Amputation tatsächlich stattgefunden hatte. Eine Vorstellung, die Leah höchst merkwürdig vorkam, aber dies war nur eines von vielen seltsamen Dingen, die sie über ihre Entführer in Erfahrung gebracht hatte.
Sie schickte die Dienerin weg und schaute sich im Harem um, sah Frauen, die sich damit beschäftigten, Frisuren aufzustecken und mit Schminke zu hantieren, sah, wie andere sich auf Sofas ausstreckten oder in den tiefer gelegten Bassins schwammen. Verwöhnte Geschöpfe. Jeder Wunsch wurde ihnen erfüllt, nur der nach Freiheit nicht. Aber wie Leah mitbekommen hatte, wollte sowieso kaum eine weg, denn wo konnte das Leben angenehmer sein als hier? Die Frauen, Konkubinen und Kinder des Pharaos waren verzärtelt und launisch und genossen jeglichen Luxus, darüber hinaus stand ihnen ein Stab von Ärztinnen zur Verfügung, die dafür sorgten, dass diese Frauen weder Schmerz noch Leid zu ertragen hatten.
Die Heilerinnen im Harem faszinierten Leah. Sie trugen lange weiße Leinengewänder und schwarze Perücken und auf ihren Brüsten das Horusauge, dem allein schon große Macht zugeschrieben wurde. Sie wurden zehn Jahre lang im Haus des Lebens ausgebildet und waren derart auf Reinlichkeit bedacht, dass sie viermal am Tag badeten und unter aufwendigen Ritualen ihre Kleidung wechselten.
Leah hatte sich mit ihnen angefreundet, um so viel wie möglich von ihnen zu lernen. Dabei stellte sie fest, dass die ägyptische Medizin in vieler Hinsicht der kanaanäischen entsprach. Die Ägypter verwendeten für ihre Rezepturen ebenfalls Heilkräuter, nur dass jede Rezeptur mit einer Beschwörungsformel begleitet werden musste. Wie kanaanäische Ärzte wussten auch ägyptische Heiler, dass Medizin nur die Symptome linderten, wohingegen Zauberformeln und Beschwörungen von Magiern und Priestern die Ursachen beseitigten. Nur dass die Ägypter ihren heilsamen Verabreichungen ein drittes Element hinzufügten: Sobald sich der Patient auf dem Wege der Besserung befand, bekam er ein schützendes Amulett, um einem Rückfall vorzubeugen.
Als jetzt Pakih, der afrikanische Eunuch, den Harem betrat, stürzte Leah auf ihn zu. »Pakih, hat David etwas von sich hören lassen? Weißt du, ob der Schriftgelehrte aus Lagasch mit dem König zurückgekommen ist?«
Pakihs schwarzes Gesicht wurde aschfahl, seine Augen zuckten hin und her, ohne sie anzusehen. Der Schweiß, der ihm jetzt am Rand seines bunten Turbans auf die Stirn trat, erschreckte sie. »Was ist denn los?«
»Du sollst im blauen Pavillon erscheinen. Unverzüglich. Der Pharao soll sehr wütend sein, weil dein König Shalaaman auf keine seiner Forderungen eingegangen ist. Es heißt, Thutmosis hat vor, etwas zu demonstrieren, was eindrucksvoll genug sein dürfte, um die Aufmerksamkeit von Ugarits widerspenstigem König zu wecken.«
»Was will er denn demonstrieren?«, fragte Leah, obgleich sie befürchtete, die Antwort bereits zu kennen. In den vergangenen zwanzig Tagen hatte sie, wenn auch ungern, ihre achtzehn Tafeln für den Obersten Arzt Reshef übersetzt, hatte sich für jede viel Zeit gelassen und vorgeschützt, ihre eigene Schrift nicht mehr entziffern zu können oder vieles vergessen zu haben, nur um bis zu Davids Rückkehr im Harem zu verweilen. Reshef ließ sie außerdem nie vergessen, dass sie eine Geisel war, ein Pfand in
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