Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
eines Tages das Licht seines Herzens nicht länger auf Erden weilen würde.
Er wollte Hatschepsut etwas schenken, was kein anderer Mann – oder Gott – ihr schenken konnte. Unsterblichkeit.
Das kanaanäische Mädchen hatte sich mit geheimnisvollem Wissen gebrüstet, das sie sich von Magiern, Heilern, Schriftgelehrten und Priestern aus fernen Städten angeeignet habe. Obwohl Ägyptens Medizin und Ärzte allen anderen weit überlegen waren, nährte Reshef die leise Hoffnung, dass ein alter Gott in einem fremden Land einem Sterblichen das Geheimnis des ewigen Lebens offenbart hatte. Und man wusste ja, dass die Götter, wenn sie auf Erden weilten, unsterblich waren. Auch unter den menschlichen Vorfahren sollte es Riesen gegeben haben, die mehrere hundert Jahre alt geworden waren. Irgendwo auf dieser Erde, unter einer feindlichen Sonne, möglicherweise in einer längst vergessenen Höhle oder unter einem alten und namenlosen Berg wartete dieses Geheimnis darauf, wiederentdeckt zu werden.
Dieses Geheimnis wollte Reshef für seine Königin der Sonne. Er wollte, dass Hatschepsut niemals starb. Nicht seinetwegen, sondern für das Wohl Ägyptens. Der Einmarsch in Kanaan ging auf Hatschepsuts brillante Strategie zurück. Als sie beschloss, dass es für Ägypten an der Zeit war, die Welt zu erobern, hatte ihr Neffe und Mitregent Thutmosis für eine sofortige Invasion plädiert. Aber die überaus kluge und schlaue Hatschepsut hielt es für ratsamer, wenn die Kanaaniter von sich aus einen Grund dafür lieferten. Die große Königin, bekannt für ihre friedlichen und höchst einträglichen Expeditionen ins Punt-Gebiet, wollte nicht als Aggressor hingestellt werden, weshalb sie beschloss »zu sterben«. Und wie sie vorausgesagt hatte, war es in den Städten Kanaans, kaum dass die Nachricht von ihrem Ableben bekannt geworden war, zur Rebellion gekommen. Und jetzt hatte die Eroberung der Welt begonnen.
Bald würde Ägypten über alle Länder herrschen und die reichste und mächtigste Macht auf Erden sein. Und Reshefs Wunsch war, Hatschepsut für viele weitere Generationen auf diesem ruhmvollen Thron zu sehen.
»Bringt mir die Dämonenbetörerin«, schnauzte Thutmosis. »Und eine Axt.«
Reshef stieß im Stillen einen Fluch aus. Einwände vorzubringen war zwecklos. Dem Pharao durfte man nicht widersprechen. Die Geheimnisse der Kanaaniterin würden folglich mit ihr sterben.
»Und bringt mir auch diesen kanaanäischen Schriftgelehrten David«, fügte Thutmosis hinzu, »damit er das Begleitschreiben verfasst, mit dem der Kopf der Dämonenbetörerin nach Ugarit geschickt wird.«
Die Habiru waren nicht mehr da.
Gestern war der Tag des Mittsommerfests gewesen, aber Feiern hatten in Megiddo nicht stattgefunden. Der Pharao war mit großem Gepränge in die Stadt eingezogen, während die Hunderte von Gefangenen in das Lager gebracht wurden, in dem schon so viele Leidensgenossen ein elendes Dasein fristeten. Bei Sonnenuntergang hatte der große Marsch nach Ägypten begonnen.
Wenn Leah jetzt aus dem Fenster im Haremsturm schaute, sah sie im dunstigen Morgenlicht nur noch das Militärlager, in dem es ausgelassen zuging, Musik gespielt wurde und Lagerfeuer brannten und das Johlen und Gelächter von Soldaten zu hören war, die aus der Schlacht zurückkehrten und sich freuten, überlebt zu haben. Vom anderen Lager waren nur noch notdürftige Unterkünfte und schwelende Feuerstellen verblieben. Unter Ägyptens effektiver Organisation hatten sämtliche Habiru-Gefangenen ihre Zelte abgebrochen und ihre Tiere zusammengetrieben, um dann über den Pass zu ziehen, der sie zur Handelsroute nach Ägypten führen würde – ein unüberschaubarer Zug von Männern, Frauen, Kindern, Ziegen und Schafen, Kamelen und Eseln, dazu ägyptische Kavalleristen, Wagenlenker und Fußsoldaten.
Leah fragte sich, wie viele die Strapazen überstehen würden. Wie viele es bis nach Goshen schafften, um dort unter der Peitsche des Pharaos eine Stadt zum Ruhme von Amon-Re erstehen zu lassen.
Leah wartete auf Nachricht von David. Sie hatte ihn nicht in der Prozession durch die Stadt entdeckt, aber beobachtet, wie sich mehrere Generäle von Thutmosis in Höhe des blauen Pavillons von der Kolonne abgesetzt hatten. Andere Männer saßen von ihren Pferden ab, stiegen von Streitwagen herunter und begaben sich eilig ins Militärlager. Hoffentlich befand sich unter ihnen auch David.
»Herrin Merit?«, fragte eine junge Dienerin und trat mit einem Becher süßen Weins auf
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