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Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)

Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)

Titel: Im Auge der Sonne: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Barbara Wood
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Namenslisten der Sklaven und Bediensteten trug er ein, wem welcher Lohn für wie viele Arbeitsstunden zustand, und er verantwortete die private wie geschäftliche Korrespondenz der Familie des Elias.
    Auch schriftliche Mitteilungen in die Stadt zu bringen und aufbrechenden Karawanen mitzugeben fiel in Shemuels Aufgabenbereich. Den Brief, den Avigail heute Morgen diktiert und den er sorgfältig in Ton geritzt hatte, hatte sie allerdings persönlich in der Karawanserei abgegeben, weil sie Shemuel bei ihrer verzweifelten Suche nach einem Ehemann nicht zutraute, eine Karawane ausfindig zu machen, die so schnell wie möglich Sidon zu erreichen gedachte.
    Diese Mühe dürfte vergeblich sein, argwöhnte der Schreiber. Bis die Cousine den Brief in Händen hielt, stand zu befürchten, dass die Schwierigkeiten, in denen das Haus des Elias steckte, übermächtig werden könnten.
    Deshalb beschloss er nun, seine Kündigung einzureichen und nach fünfundzwanzig Jahren Abschied von seinem Dienstherrn zu nehmen.
    Ein Mann muss schließlich an sich selbst denken. Shemuel war es egal, ob man ihn mit einer Ratte verglich, die das sinkende Schiff verlässt. Zum einen wurde es sowieso für ihn Zeit, sich aufs Altenteil zurückzuziehen, zum anderen durchschaute er, was Jotham
wirklich
vorhatte – weitaus Schlimmeres, als lediglich Elias’ Weinhandel und seinen Ruf zu schädigen. Die Familie ging zweifellos dem Untergang entgegen, und wenn dieser Zeitpunkt gekommen war, wollte Shemuel weit weg sein.
    Er überlegte kurz, ob er Elias vor dem bevorstehenden Desaster warnen sollte, der unter Umständen einen heftigen Streit nach sich ziehen und letztendlich vor Gericht ausgetragen werden würde. Jahrelang könnte sich so etwas hinziehen, und Shemuel müsste sich während dieser Zeit als Zeuge zur Verfügung halten. Nein, lieber nichts sagen und sich beizeiten dem Ärger entziehen.
    Er fand seinen Dienstherrn in der Gärkammer, einem aus Stein errichteten Gebäude, das zur Weinkellerei hinter der Villa gehörte. Hier drinnen war es kühl, es roch nach Hefe und überreifem Obst. Facharbeiter behandelten die zerquetschten Trauben, die in großen hölzernen Bottichen lagerten, rührten die Mischungen durch, prüften ihre Reife und schmeckten sie ab – eine zeitaufwendige Tätigkeit. Elias war damit beschäftigt, die Erstabfüllung eines neuen Jahrgangs in Amphoren zu überwachen, als Shemuel die Gärkammer betrat. Respektvoll zog er das Käppchen ab, mit dem er seinen kahlen Schädel vor der Sonne schützte, und sagte: »Lieber Freund, ich sehe mich gezwungen, meine Kündigung einzureichen. Du warst immer gut zu mir, aber eingedenk der Tatsache, dass die Jahre mir zugesetzt haben, möchte ich mich aufs Altenteil zurückziehen.«
    Elias zeigte sich tief betroffen. »Hast du nicht immer gesagt, du würdest mit einem Ritzstift in der Hand sterben?«
    »Gewiss doch, aber meine Augen sind nicht mehr so scharf wie früher.« Eine Lüge, wiewohl eine glaubhafte. Shemuel ging auf die fünfzig zu. »Ich habe eine Villa auf Zypern erworben.«
    »Auf Zypern! Dazu musst du über das Große Meer. Da werde ich dich wohl nie wiedersehen.«
    Sie tauschten einen langen Blick, dann sackten Elias’ Schultern ein. »Ich versteh schon, alter Freund. Du hast nichts damit zu tun, dass ich Jotham gekränkt habe und er deshalb einen ehrenrührigen Krieg gegen mich und mein Haus angezettelt hat. Ich kann es dir nicht verdenken, dass du gehen möchtest.«
    Bar jeglichen Mitgefühls war Shemuel allerdings nicht. »Ich habe mich bereits nach einem Nachfolger umgesehen und in diesem Sinne an einen Freund von der Bruderschaft in der Stadt Lagasch am Euphrat geschrieben. Dort gibt es jede Menge guter Schriftkundiger, aber nicht genug freie Stellen. Der Freund schrieb zurück, dass er einen sehr fähigen jungen Mann empfehlen könne, der zudem bereit sei, nach Ugarit zu kommen.«
    »Frisch aus der Schule?« Elias runzelte die Stirn.
    »Elias, es dürfte sehr schwer sein, einen Schreiber meines Alters und mit meiner Erfahrung dazu zu bewegen, für dich zu arbeiten.«
    »Wann kommt er?«
    »Er ist bereits unterwegs und sollte in wenigen Tagen hier eintreffen. Elias, mein Freund, schau doch nicht so bedrückt. In deiner angespannten Situation könnte ein junger Schreiber, der für seine Dienste lediglich Unterkunft und Verpflegung verlangt, ein Segen sein. Und sein Eifer, es dir recht zu machen, dürfte dir zum Vorteil gereichen.«
    Noch eine Lüge, wenngleich eine kleine.

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