Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
Shemuels Freund in Lagasch hatte zu bedenken gegeben, dass es sich bei diesem David, um den es ging, nicht nur um einen veritablen Schriftgelehrten handelte, sondern dass er seiner Herkunft nach ein Prinz war und zudem reichlich arrogant und ungemein ehrgeizig. Aber er verkniff es sich, eigens darauf hinzuweisen. Bis Elias die ganze Wahrheit herausgefunden hat, dachte er, habe ich mich längst in meiner Villa auf der anderen Seite des Meers gemütlich eingerichtet.
3
»Die Königin von Ugarit soll ja unersättlich sein«, sagte Nobu und angelte sich ein Lammkotelett aus den Kohlen. »Angeblich nimmt sie sich jeden Tag einen anderen Liebhaber, manchmal sogar einen morgens und abends dann einen anderen. Am liebsten sind ihr die, die vor Männlichkeit strotzen. Es heißt, sie lässt die Kandidaten nackt vor sich hintreten, damit sie ihre Geschlechtsteile in Augenschein nehmen kann.«
»Glaub doch nicht alles, was man sich über eine Königin erzählt«, wehrte David ab und nahm einen Schluck Wein.
Nobu, der geräuschvoll auf dem knusprigen Fleisch herumkaute, schielte über die Glut des Lagerfeuers hinweg zu seinem Herrn. Gut sah er aus, der vierundzwanzigjährige David mit seinen dunklen Augen und der markanten Nase. Wie es sich für einen Prinzen aus königlichem Haus gehörte. Fragte sich nur, ob Davids Missbilligung über das, was er, Nobu, gerade geäußert hatte, mit seiner Mutter, der Königin von Lagasch, zusammenhing, die für ihre hohen Moralansprüche bekannt war. Sogar in ihrer Ehe, so hieß es, halte sie es mit der Keuschheit. Nachdem sie dem König zwölf Kinder geschenkt hatte, habe sie ihm erklärt, dass sie »mit alldem nichts mehr zu tun« haben wolle, und eine eigene Bettkammer für sich gefordert.
Nobu zuckte mit den Schultern und zog seinen Umhang fester um sich. David schien die kalte Frühlingsnacht nichts auszumachen – er trug lediglich eine wollene Tunika, die, wie in Lagasch üblich, einen Arm unbedeckt ließ. Um diesen entblößten Arm war zum Zeichen für Davids Zugehörigkeit zu einer heiligen und elitären Bruderschaft, die sich Zh’kwan-eth nannte, eine lederne Scheide geschnallt, in der ein Dolch steckte.
»Bleibt uns nur zu hoffen, dass der Blick von Ugarits Königin nicht auf
dich
fällt, Meister. Sie würde alle anderen Männer vergessen und dich in ihrem Bett festhalten, bis deine Hoden auf die Größe von Rosinen zusammenschrumpeln.« Er warf den Knochen weg und griff sich ein weiteres fetttriefendes Kotelett aus der Glut. Die beiden Männer waren allein unterwegs, mit lediglich zwei Pferden und einem Packesel. Morgen würde die lange Reise von Lagasch nach Ugarit zu Ende sein.
Knuspriges Fett zwischen den großen, kräftigen Zähnen zermalmend, schüttelte Nobu beim Gedanken an eine Frau, die gut und gern an die siebenhundert Mal im Jahr ihre Sinnlichkeit auslebte, den Kopf. Aber er schwieg, da er mutmaßte, dass eine diesbezügliche Bemerkung auf taube Ohren stoßen würde. Sein junger Herr, der, einen goldenen Weinbecher zwischen den Händen, in die Flammen des Lagerfeuers starrte, schien mit seinen Gedanken ganz woanders zu sein.
Was ihm im Kopf herumging, war leicht zu erraten. Nobu hatte als Sklave im Palast gedient, bis man ihn mit der Fürsorge des jungen Prinzen betraut hatte, als dieser im Alter von sieben Jahren in die Schule des Lebens eintrat, um Schriftgelehrter zu werden. Seither wich Nobu dem jungen Mann nicht von der Seite.
»Stell dir das mal vor, mein Freund«, sagte David jetzt und bedachte Nobu mit einem Blick aus seinen dunklen Augen, aus denen Leidenschaft und Lebensfreude sprühten. »Da macht sich der große König Gilgamesch auf die Suche nach dem Heilkraut, das Alter-Mann-wird-wieder-jung heißt und immerwährende Jugend verspricht, und entdeckt es schließlich auf einer Sandbank im Meer. Aber dann, als Gilgamesch schläft, kommt eine Schlange und frisst dieses Heilkraut. Und deshalb ist die Schlange unsterblich – weil sie ihre Haut abstreift und neu geboren wird –, die Menschen hingegen sterben, weil man ihnen das Kraut der Unsterblichkeit vorenthalten hat. Ich habe gehört, dass in Ugarit, in der Bibliothek im Haus des Goldes, eine Karte von jener Sandbank im Meer aufbewahrt wird, mit Angabe der Stelle, wo Gilgamesch geschlafen hat und wo das Heilkraut, das ewige Jugend verspricht, weiterhin zu finden ist!«
Nobus Augen unter den schweren Lidern wurden kugelrund. »Wirst du dir die Karte anschauen, Meister? Werden wir dann diese Sandbank
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