Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
vormachten. Aber einen Sinn ergaben die Zeichen für mich nicht, waren lediglich dekorative Keilformen in Ton. Jeden Tag beklagte ich mich bei meinem Vater, bis er mich eines Tages in seinem Wagen zur Stele der Geier mitnahm, einem Grenzstein außerhalb der Stadt. Ich sollte ihn mir ansehen. Ich langweilte mich, beobachtete, wie ein Habicht über uns flog. Grub meine Zehen in den Sand. Mein Vater jedoch wollte nicht eher gehen, als bis ich der Stele nicht meine volle Aufmerksamkeit gewidmet hätte. Also tat ich ihm, schon weil ich hungrig war und nach Hause wollte, schließlich den Gefallen. Er wollte von mir wissen, was darauf geschrieben stand. Das konnte ich nicht lesen. Die Zeichen in dem Stein sagten mir nichts … Und dann … urplötzlich fügte sich alles zusammen!« Hastig sprach er jetzt, lächelte, gestikulierte mit den Armen, und seine Augen leuchteten. Seine Begeisterung war ansteckend. Leah lächelte, so als wäre sie es, die gerade ein Zeichen im Ton erkannt hatte.
»Ich las Worte von Männern, die längst tot und zu Staub geworden waren. Sie sprachen zu
mir!
Meine Leidenschaft war geweckt. Und ein neuer Glaube an die Götter, denn an jenem Nachmittag mit meinem Vater begriff ich, dass Worte etwas Kostbares sind. Keineswegs nur menschliche Laute, mit Lippen und Zunge gebildete bedeutungslose Äußerungen. Worte werden im Herzen geboren. Sie sind die Poesie der Seele. Was jemand sagt, Leah, ist ein Teil von ihm, das er weggibt. Wie ein Stück seines Herzens, etwas von seiner Seele. Ich würde Worte niemals leichtnehmen oder sie schmähen oder einem anderen zutragen, wenn sie vertraulich geäußert wurden. Die Worte eines anderen vertraulich zu behandeln ist mir heilig.«
Er lächelte sie an und war selbst verwundert über diesen unerwarteten Seelenausbruch gegenüber einer jungen Frau, die er kaum kannte. Aber zu beobachten, wie gebannt sie dem lauschte, was er sagte, wie sie seine Worte aufnahm und sie festhielt, weckte in ihm den Wunsch, weiterzusprechen – immer weiter und sie in die Arme zu nehmen, sie irgendwie spüren zu lassen, was er empfand. Ja, ging es ihm durch den Kopf, ja, es ist eine Schande, dass sie niemals Lesen und Schreiben gelernt hat, weil er wusste, wie sinnlos sein eigenes Leben ohne Worte wäre.
»An besagtem Nachmittag spürte ich hier tief drinnen«, fuhr David leise fort und klopfte sich auf die Brust, »so etwas wie einen Ruf, eine Berufung. Ich kann nicht beschreiben, wieso mir das klarwurde, aber als wir die Stele der Geier verließen, wusste ich, dass Shubat mich für eine große Aufgabe auserwählt hatte. Ich glaube, dieser Ruf bezieht sich auf die Bruderschaft der Schriftgelehrten hier in Ugarit und darauf, eines Tages in das Amt des Rabs aufzusteigen.«
»Von Shubat habe ich noch nie gehört«, sagte sie und wünschte sich, er würde ewig so weitermachen, ihr sämtliche Geschichten aus seiner Jugend erzählen. Sie hätte sich gern ein Bild von seiner Stadt gemacht, dem Palast, seinen Eltern. Sie war begierig darauf, alles über diesen Prinzen zu erfahren.
Als er sich vorbeugte, um einen der Pfandscheine zu prüfen, verfolgte sie die Bewegungen von Sehnen und Muskeln unter seiner straffen Haut. »Vor der Großen Flut, die die Menschheit auslöschte«, hob er wieder an, »waren alle des Lesens und Schreibens unkundig. Sie kannten weder Zeichen noch Tafeln, weder Tinte noch Papyrus. Noch nie hatte jemand auch nur eine einzige Hieroglyphe gemalt oder einen keilförmigen Stift in Ton gedrückt. Für die Götter war das der Grund, weshalb die Menschen von den Gesetzen abgefallen und weshalb sie sündigten und widerspenstig geworden waren und weshalb sie vernichtet werden sollten, damit anschließend eine neue Welt erstehen konnte. Ein paar Menschen überlebten in einer riesigen Arche, und als das Wasser zurückging und die Arche auf einem Berg aufsetzte, berieten sich die Götter untereinander und beschlossen, einen von ihnen zur Erde zu schicken und die Menschen die Kunst der schriftlichen Verständigung zu lehren, auf dass ihre Gesetze in Stein gemeißelt und sie nie wieder in Ungnade fallen würden.«
Er deutete auf die kleine Statue. »Die Wahl fiel auf Shubat. Er kam auf die Erde und nahm menschliche Gestalt an. Er zog durch das Land, suchte sich gute und ehrenhafte Menschen aus und erteilte ihnen Unterricht. Als sie alle Schriftzeichen und Hieroglyphen verinnerlicht hatten und die Kunst des Malens und Beschriftens beherrschten, entledigte er sich seiner
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