Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
untergebracht war, an die Gärten, an das trauliche Zusammensein mit den Brüdern, an die große Schriftrollensammlung und die Archive, in denen sich dem Vernehmen nach die ältesten Geheimnisse der Menschheit befanden – vor allem dachte er daran, seinem Gott auf die seiner Meinung nach höchste und vornehmste Weise zu dienen –, und auf einmal waren Verstand und Herz nicht länger in Konflikt, waren alle Selbstzweifel und Verunsicherungen verschwunden, als ihm klarwurde, was er zu tun hatte. »Ich möchte dich und deinen Ehemann zu einer Hochzeitsfeier einladen«, sagte er.
Die dreizehnjährige Esther rannte den Pfad entlang zum Tor, um einmal mehr nach Gästen aus der Stadt Ausschau zu halten. Aber die Straße lag im Dunkeln.
Kam denn
niemand
zur Hochzeit?
Die Küchensklaven hatten zwei Tage lang alle Hände voll zu tun gehabt, um ein Festmahl vorzubereiten, über das man, wie Elias hoffte, noch jahrelang sprechen würde: grüne Bohnen in Essig, gedünstete Kohlrabi mit Pinienkernen, Kohl in saurer Sahne, Krabbensalat, gedämpfte Kammmuscheln, Spanferkel, gebratener, mit Nüssen und Knoblauch gefüllter Fisch, Blutwurst, Walnusspastete, gesalzene Wassermelonen, Feigentörtchen in Honig, Dattelpudding. Brotlaibe verschiedener Größen und Formen, serviert mit Granatapfel- und Birnensirup, warmes Olivenöl, geschäumte Ziegenbutter. Dazu die erlesensten Weine aus eigenem Anbau sowie aus Jericho importiertes Bier.
Wider alle Vernunft hatte Avigail eine Tanz- und Akrobatiktruppe sowie Musikanten und Sänger verpflichtet. Sie hatte zusätzliche Lampen, Kerzen und Fackeln gekauft, weshalb jede Ecke der Villa in hellem Licht erstrahlte. Der Duft von teurem Weihrauch hing in der Luft. Zusätzliche Tische und Sitzkissen waren überall verteilt worden, frische Rosen und Lilien standen für die Gäste bereit. Im oberen Stock legte Leah letzte Hand an ihr Hochzeitskleid, während Elias und David so gut wie möglich die männliche Verwandtschaft von Caleb vertraten, der sich ebenfalls in sein bestes Gewand hüllte.
Alles war bereit. Die hell erleuchtete Villa summte erwartungsvoll. Was jetzt noch fehlte, waren die Gäste.
Niedergeschlagen kam Esther zurück. Da hatte sie vor Aufregung nicht schlafen können und dann zu Ehren der Schwester nicht nur ihr schönstes safrangelbes Gewand mit dem dazu passenden Schleier angelegt, sondern zudem die Erlaubnis erhalten, ihre Augen zu schminken und Wangenrot aufzulegen – und was sie jetzt sah, waren leere Tische und Sitzkissen, niederbrennende Kerzen, Musiker, die über ihren Instrumenten eingenickt waren!
Tamar saß bereits am Familientisch und brütete verdrossen vor sich hin. Sie hatte die Auseinandersetzung zwischen Großmutter und Vater mit angehört, an deren Ende feststand, dass für Leah eine prächtige Hochzeit ausgerichtet werden sollte, sie selbst sich hingegen mit einer bescheideneren zu begnügen hätte! Wie ungerecht! Umso schadenfroher war sie jetzt, dass die Gäste ausblieben und Leah somit keine Zeugen haben würde, wenn sie bei der Hochzeitszeremonie unter dem Baldachin stand, zusammen mit Caleb, und ihm Gehorsam versprach.
Eine bescheidene Hochzeit für Tamar …
Sie hatte versucht, ihre Wirkung als Frau an Caleb auszuprobieren, um herauszufinden, ob es stimmte, was Baruch bei ihrem letzten Zusammensein gesagt hatte – dass die Männer ihr zu Füßen liegen und ihr jeden Wunsch erfüllen würden. Caleb lächelte sie zwar mit blitzenden Zähnen an und schien sie charmant zu finden; da er sich aber allen anderen Familienmitgliedern gegenüber ebenso verhielt, konnte sie sich ihrer Sache keineswegs sicher sein. Als die Hochzeit dann näher rückte, hatte Tamar beschlossen, ihre Verführungskünste bei Leahs Verlobtem nicht länger zu erproben.
Jetzt aber durchfuhr sie ein neuer Gedanke.
Wenn ihr schon zu gegebener Zeit lediglich eine bescheidene Hochzeit zugestanden wurde, wollte sie, sozusagen als kleine Entschädigung dafür, den Ehemann ihrer Schwester verführen. Damit könnte sie beweisen, dass Baruch recht hatte, könnte sich selbst beweisen, dass sie nicht die unwichtige kleine Schwester war, sondern sehr wohl über Macht und Ausstrahlung verfügte. Und sie könnte sich an Leah für dieses Unglück, das sie über das Haus gebracht hatte, rächen.
Klingklang! Klingklang!
Tamar reckte den Kopf so rasch in die Höhe, dass sich vereinzelte Blumen aus ihrem Schleier lösten. Die Glocke am Tor, nirgendwo im Haus zu überhören. Avigail in der Küche
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