Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
sterblichen Hülle und kehrte ins Land der Götter zurück. Zuvor aber bedachte er jeden der dreizehn Schriftkundigen mit einem besonderen Geschenk: einem geheimen Symbol, an dem sie einander erkennen würden, wenn sie in die Welt hinauszogen und andere im Schreiben unterwiesen. Im Laufe der Jahrhunderte jedoch ging das geheime Symbol verloren. Wir sind eine zersplitterte und in alle Himmelsrichtungen verstreute Bruderschaft, die erst wiedervereint werden kann, wenn wir dieses Symbol finden.«
Spontan erwiderte Leah: »Vielleicht solltest du ein neues erschaffen.«
Er sah sie entgeistert an. »Das wäre vermessen, denn das steht allein Shubat zu.« Auch wenn er das sagte, verriet das Funkeln in seinen Augen, dass Leahs Anregung ihm zu denken gab.
»Ich muss gehen«, sagte sie zögernd. »Großmutter dürfte schon ungeduldig sein.«
»Einen Augenblick noch.« Er wusste nicht, warum er das gesagt hatte, er wusste nur, dass er sich wünschte, sie würde noch bleiben. »Wie entwickelt sich dein Garten?« Seit er vor drei Monaten per Zufall diese abseits gelegene Ecke des Anwesens entdeckt hatte, war er nicht mehr dort gewesen.
Sie lächelte. Er hatte ihr etwas ganz Persönliches offenbart, etwas, das ihm wichtig war. Dass er etwas Ähnliches von ihr erwartete, ließ ihr das Herz aufgehen. »Ich hielt die Maulbeere für tot, aber dann entdeckte ich einen jungen Trieb, der sich entwickelt hatte, obwohl er nicht gegossen worden war und niemand darauf geachtet hatte, dass er genug Sonne bekam. Ich glaube, das ist ein Zeichen von Asherah, damit ich ein persönliches Ziel verfolge, obwohl mir Großmutter genau das untersagt hat. Durch meine Pflege hat sich der Trieb weiterentwickelt, und wenn ich sehe, wie er wächst, weiß ich, dass Asherah zu mir spricht und mich darin bestätigt, dass ich auf dem richtigen Weg bin. Eines Tages, David von Lagasch, wird aus meinem Setzling ein großer Baum werden und süße Früchte tragen. Ich hoffe … dass du dann noch in Ugarit bist und unsere süßen Maulbeerfeigen verkosten kannst.«
David war sprachlos. Sie hatte so wenig gesagt – und doch so viel.
»Jetzt muss ich aber wirklich gehen«, sagte sie. Sie trat einen Schritt zurück, deutete nochmals auf die Tafeln, die in der Sonne erhärteten. »Ich wünsche dir viel Glück mit deinen Pfandscheinen, David von Lagasch. Bestimmt gibt es in Ugarit Männer, die stolz darauf sein werden, für dich bei der Bruderschaft zu bürgen.« Sie wandte sich zum Gehen.
»Leah …«
Als sie sich nochmals umdrehte, sah er Tränen in ihren Augen. »Ach, David …«, flüsterte sie.
Mit zwei Schritten war er bei ihr. Er fasste sie an den Armen, zog sie an sich und küsste sie stürmisch auf den Mund.
Sie seufzte auf, und gleich darauf schlang sie die Arme um ihn, klammerte sich an ihn, je länger der Kuss dauerte und je leidenschaftlicher er wurde. Seine Zunge erforschte ihren Mund, schmeckte die Süße ihrer Zunge und entfachte in ihnen beiden ein ungekanntes Feuer. Die Sonne umgab sie mit einem goldenen Schein, in gegenseitigem Verlangen gaben sie sich den Empfindungen ihres Körpers hin, schwelgten in der Berührung des anderen.
Doch dann zwang sich David, von ihr abzulassen. Seine Augen glänzten dunkel, als er mit gepresster Stimme sagte: »Ich habe mit meinen Gefühlen für dich gerungen, liebste Leah, weil du mir versagt bist. Nicht einmal aussprechen sollte ich das, aber es muss sein, dieses eine Mal und dann nie wieder. Ich liebe dich, Leah Bat Elias, und werde dich auch dann noch lieben, wenn du Leah Isha Caleb bist. Ich werde immer für dich da sein, ich werde deinem Ruf antworten, wann immer du mich brauchst und wo immer ich bin.«
Leah schluchzte auf. Sie war drauf und dran, ihm zu sagen, dass sie Caleb nicht heiraten, sondern mit ihm fortgehen und für immer bei ihm bleiben wollte. Als sie jedoch zum Sprechen ansetzte, musste sie daran denken, was sie Asherah versprochen hatte, und auch daran, dass sie eine schwere Gehorsamsprüfung auf sich zukommen fühlte, wobei ihre größte Angst war, dass sie, ohne zu wissen, wann diese Prüfung bevorstand, versagen würde. Aber sie hatte sich getäuscht. Sie erkannte die Prüfung – hier war sie …
Deshalb behielt sie die Worte, die für sie und David und auch für ihre Familie verhängnisvoll sein würden, für sich, bewahrte ihr Schweigen, weil sie wusste, dass dies die letzte Gelegenheit war, mit ihm zusammen zu sein. Ab morgen würde sie einem anderen angehören.
»Mein Sohn,
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