Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
südlicher gelegenen Städten lag. Meist hatte Avigail sie abgewiesen, weil die Waren ihren Ansprüchen nicht genügten. Inzwischen war sie nicht mehr so wählerisch, weshalb sie sich das Angebot des Hausierers ansah, der an diesem feuchtkühlen Frühjahrstag mit seinem zerzausten langen Bart und in einer zerlumpten rot und schwarz gestreiften Robe vor ihr stand. Im Gegensatz zu billigem Tuch oder einfachem Käse bot er ein paar höchst eigenartige Vögel zum Verkauf an.
»Man nennt sie Hühner, Herrin«, sagte der Mann in einem Kanaanäisch mit starkem Akzent, was darauf schließen ließ, dass er von weit her kam. »Sie legen täglich Eier und können nicht fliegen, brauchen also nicht in einen Käfig gesperrt zu werden.«
»Kein Vogel legt jeden Tag Eier. Nur zu einer bestimmten Jahreszeit. Wo kommen sie her?«
»Aus dem Tal des Indus.«
»Noch nie davon gehört.« Stirnrunzelnd schaute sie die fetten braunen Kreaturen in dem Käfig zu seinen Füßen an. Sie waren rundlicher als normale Vögel und gaben komische Laute von sich, die sich wie
took-tock-tock
anhörten.
»Und essen kann man sie auch. Ihr Fleisch ist saftig und schmeckt köstlich.«
Avigail überlegte. Vögel, die unentwegt Eier legten, würden sich rasch bezahlt machen. Dann aber sah sie, dass der Händler mit einer Familie unterwegs war, einer Frau und zwei Kindern, die auf einem ausgemergelten Esel am Ende des Pfads warteten.
Sie erkannte sie als Habiru, die heimatlos von einem Ort zum anderen zogen und ihren Gott in einem Zelt verehrten! Darauf stand für sie fest, wie viele Eier auch immer die dicken Vögel lieferten, sie würde mit solchen Leuten keinen Handel treiben. Mit einem »Schönen Tag noch« eilte sie ins Haus zurück. Wie viel Arbeit dort wartete!
Seit Caleb und Tamar mit dem Schatz aus Elias’ geheimem Gewölbe und ihrem eigenen Schmuck durchgebrannt waren, musste Avigail zusehen, wie sie genug Essen auf den Tisch brachte und die Kleidung für die Familie in Ordnung hielt. In der neben der Küche gelegenen Wäschekammer griff sie nach einem Bündel Kleidungsstücke, die verschlissen oder eingerissen waren und normalerweise an die Armen gegangen wären, jetzt aber geflickt und weiterhin getragen wurden. Ausgaben einzusparen war für Avigail oberstes Gebot.
Zwar fanden sich alle klaglos mit den Einschränkungen ab, aber auf ihre Leibwache verzichten zu müssen fiel Avigail doch schwer. Auch das Haus in den Bergen hatte sie verkaufen und das Gold, das sie dort für den Notfall versteckt hatte, ausgraben müssen. Nichts mehr von dem, was den Schutz und die Sicherheit der Familie gewährleisten sollte, war geblieben.
Aber Avigail ließ sich nicht unterkriegen. Obwohl sie einer der wohlhabendsten Familien in Jericho entstammte und in ihren Adern königliches Blut floss, hatte man sie von Kindesbeinen an darauf eingeschworen, wie wertvoll ehrliche Arbeit und ein erfinderischer Geist waren. Keine der Frauen im Hause – ob Hannah, Esther, Leah, selbst die betagte Rakel – blieb tagsüber untätig; entweder saßen sie am Webstuhl oder über einer Flickarbeit, kümmerten sich um die Gemüsegärten, melkten ihre Ziegen. Da Elias sich gezwungen gesehen hatte, Sklaven zu verkaufen und Lohndiener zu entlassen, musste die Familie notgedrungen deren Aufgaben übernehmen. Den Göttern sei Dank, dass Saloma, die Konkubine, die im sechsten Monat schwanger war und von der sich alle einen Sohn erhofften, sich überraschenderweise als sehr geschickt darin erwiesen hatte, Wolle zu feinen festen Fäden zu spinnen. Selbst die minderwertigste Wolle verwandelte sich unter ihren Händen zu bestem Garn.
Etwas jedoch gab es, wofür Avigail keine Ausgabe scheute. Wer immer an Hausierern und Händlern mit Amuletten, Zaubersprüchen, Weihrauch und Öl am Tor vorsprach, fand in der ungemein abergläubischen Avigail eine bereitwillige Abnehmerin. Jedes ihrer Mädchen trug inzwischen zusätzliche Amulette zur Abwehr von Unheil, und sie drang auch darauf, dass alle in der Familie morgens und abends zu Asherah und Baal beteten.
Auf dem Weg ins Sonnenzimmer dachte sie darüber nach, ob man nicht versuchen könnte, die eine oder andere der hübschen bunten Ketten, wie sie Esther aus billigen Perlen anzufertigen verstand, zu Geld zu machen. Vielleicht über den Mittelsmann, der bereits Avigails Kostbarkeiten unter der Hand verkauft hatte? Natürlich durfte niemand erfahren, woher Esthers Perlenschmuck stammte.
In dem Garten, der an das Sonnenzimmer grenzte, war
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