Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
David nur selten gesehen, schon weil er viel Zeit mit seinen schriftgelehrten Brüdern verbrachte und nach und nach Freundschaft mit Gleichgesinnten schloss, die wie er eine Reform für nötig erachteten. Auch wenn er offiziell noch immer in diesem Haus wohnte und ihrem Vater als Schreiber diente, ließ er sich nur noch sporadisch blicken. Seine Gegenwart aber war für Leah auf Schritt und Tritt zu spüren. Bald würde sich das Haus leer anfühlen.
»Tante Rakel«, sagte sie jetzt, »wie verabreicht man einem Patienten Molochs Traum? Muss man ihn wie die Priester in Jericho einatmen? Oder als Tee trinken?«
Sie erhielt keine Antwort. Die alte Frau beugte sich plötzlich nieder und besah sich die winzigen rosa Blüten eines gefiederten Pflänzchens. »Bei meiner Seele, das ist ja Kreuzkümmel! Rebekka, Kreuzkümmel, aufgekocht in Gänsefett und Milch, wirkt Wunder bei Magenbeschwerden. Mein Yacov leidet unter Magenbeschwerden. Ich habe wohl zu scharf gewürzte Speisen gegessen, als ich mit ihm schwanger war.«
»Tantchen, wer in Jericho litt eigentlich unter Fallsucht? Und wie wurde ihm Molochs Traum verabreicht?«
In diesem Augenblick knarzte das Tor, Avigail trat ein und starrte verwundert auf die beiden auf der Marmorbank – die schlanke Enkelin in einem cremefarbenen Gewand und Schleier, die verhutzelte alte Tante in Dunkelgrau. »Leah! Was muss ich da hören! Sprich ein Gebet! Habe ich dir nicht verboten, die arme Tante Rakel mit deinen Fragen zu quälen?«
Leah stand auf. »Verzeih, Großmutter, ich wollte dir keinen Kummer bereiten, aber ich …«
»Mir Kummer bereiten! Leah, ruf unverzüglich die Götter an!
Widersetzt
hast du dich mir! Heimlich! Wohl damit ich nichts merke, wie?« Vor Zorn schlug ihre Stimme um, wurde schrill. »Was in Asherahs Namen ist bloß in dich gefahren!«
»Rebekka«, mischte sich Tante Rakel ein, »rasch, sprich ein Gebet. Wie oft habe ich dir gesagt, dass man nicht herumschreit.« Sie legte den Kreuzkümmel aus der Hand, sah sich um. »Ich muss etwas holen. Es dürfte in meiner Bettkammer sein …«
»Rakel, Liebes«, sagte Avigail, als sie die gebrechliche Frau zum Tor begleitete, »warum legst du dich nicht ein wenig hin?«
Kaum war die Tante außer Sichtweite, fuhr Avigail Leah an. »Siehst du? Sie hat sich deinetwegen aufgeregt. Warum hast du dich nicht an meinen Befehl gehalten, Rakel nicht mit Fragen zu bestürmen?«
»Großmutter, schau doch mal dort drüben, an der Mauer.« Leah deutete auf die üppig wuchernde hohe Pflanze mit den spitz zulaufenden gezackten langen Blättern und den dazwischen dicht an dicht angeordneten Knospen. »Wir haben sie vor ein paar Monaten gepflanzt, und jetzt ernten wir den Teil, der einen medizinischen Wirkstoff enthält und Molochs Traum genannt wird. Tante Rakel zufolge kann er Fallsucht heilen. Wir könnten ihn Zira anbieten, wenn sie sich im Gegenzug dafür verwendet, dass Jotham uns in Ruhe lässt.«
Avigail presste erbost die Lippen zusammen. »Das hättest du vorher mit mir besprechen müssen.« Zusätzlicher Kummer, weitere Sorgenfalten zeichneten sich auf ihrem Gesicht ab. »Großmutter«, sagte Leah, »warum lässt du mich nicht nach dem Mittel gegen Fallsucht forschen, um diesen Streit aus der Welt zu schaffen?«
Avigail rang die Hände, suchte nach Worten, nach einer Rechtfertigung. Aber genau erklären konnte sie ihr Zögern – ihre Furcht – nicht. Alles hing irgendwie mit Rakels Vergangenheit zusammen. Mit Jericho. Sie wusste nicht, warum es sie so erschreckte, dass Leah in der Vergangenheit der Tante herumstocherte. Sie wusste nur, dass Rakel Geheimnisse hatte und dass es besser war, wenn einige davon Geheimnisse blieben.
»Weil ich meine, dass die Erinnerung an die Vergangenheit schmerzvoll für sie sein könnte, Kind.«
»Ich tue das ja nicht für mich, sondern um unsere Familie zu retten. Ach, Großmutter!« Leah wandte sich ab, verschlang die Hände ineinander. »Wie froh wäre ich, die Tante nicht ständig bedrängen zu müssen! Und wie froh, nichts über ein Heilmittel gegen Fallsucht herausfinden zu müssen! Asherah, vergib mir, aber am liebsten würde ich mit alldem überhaupt nichts zu tun haben!«
Niedergeschlagen schaute sie ihre Großmutter an, die verdutzt meinte: »Dann lass es doch bleiben. Vergiss das Heilmittel …«
»Großmutter, weißt du eigentlich, dass David uns demnächst verlässt? Seine Lehrzeit bei uns geht zu Ende. Dann tritt er der Bruderschaft der Schriftgelehrten
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