Im Auge der Sonne: Roman (German Edition)
gerade genug zu lernen, um den Erwartungen ihrer Väter gerecht zu werden. Yehuda war gern mit ihnen zusammen, er fand ihr Lachen hinreißend, war entzückt, wie jung sie waren, wie unschuldig. Zira dagegen war alles andere als erbaut, dass der dreißigjährige Yehuda sich mit Studenten abgab, von denen keiner älter als fünfzehn war. Ihrer Meinung nach klopfte er zu oft aufmunternd auf deren Schultern, drückte ihren Arm. Gelegentlich ließ er sie sogar bei sich übernachten.
Sie schob diese Überlegungen beiseite. Die Welt der Schriftgelehrten interessierte sie nicht. Ihr ging es um Wichtigeres. Seit sie denken konnte, brannte sie darauf, dereinst im königlichen Palast zu leben, und jetzt schien dieses Ziel zum Greifen nahe. Sie hatte ihren Sohn schon häufig darauf angesprochen, aber Yehuda hatte stets abgewinkt. Und als seine Mutter – als Em Yehuda – hatte sie zu gehorchen. Diesmal jedoch würde sie nicht lockerlassen!
»Schick sie weg«, sagte sie und deutete auf die Knaben. Zögernd kam er ihrer Bitte nach, sagte aber: »Du hast ihren Unterricht gestört.«
»Der Gesundheitszustand des Königs verschlechtert sich. Mein Sohn, du kannst es nicht länger aufschieben, mit dem Rab über deine Ernennung zu sprechen.«
Er erhob sich von der Bank, hochgewachsen und knochig stand er in seinem engen braunen Wollhemd über dem knielangen weißen Rock vor ihr. Eine elegante Erscheinung, befand sie, wenn auch ein wenig mürrisch. »Mutter, das ist eine ungemein heikle Angelegenheit, die Takt und diplomatisches Geschick erfordert. So einfach, wie du glaubst, ist das jedenfalls nicht.«
»Du weißt doch, dass der Weg zum Thron über das Amt des Rabs führt. Warum bist du nur so starrsinnig!«
»Und seit wann bist du so ein Drachen?«
Sie schluckte. Als Yehuda sah, wie sehr er sie getroffen hatte, verzog er schuldbewusst den Mund zu einem Flunsch. Der Thron war ihre Idee. Er war zufrieden, mit seinen Schülern zusammen zu sein. Warum war sie so versessen auf die Rolle der Königinmutter? Warum wollte sie dieser Furie in Ägypten nacheifern, der bösen Hatschepsut, die zweifelsohne ihren bedauernswerten Neffen und Stiefsohn genauso herumkommandierte wie seine Mutter ihn? Was haben Mütter und Söhne miteinander zu schaffen? Könnt ihr uns nicht in Ruhe lassen? Ich wollte nie Schriftgelehrter werden! Ich hatte meine Freunde, meinen Streitwagen, Pfeil und Bogen für die Jagd und meinen geliebten Enoch, den du fortgeschickt hast …
»Aahh!«,
schrie er unvermittelt auf.
Zira eilte an seine Seite. »Was ist, mein Sohn?« Aber sie kannte die Antwort bereits. Die verdrehten Augen, die gurgelnden Laute, das zu Bodenstürzen, das Zappeln seines Körpers wie ein Fisch auf dem Trockenen. Der Schaum vor dem Mund. Der feuchte Fleck, der sich auf seinem knielangen Rock abzeichnete. Die geschwollenen Adern und die gerötete Haut.
»Mein Sohn! Mein Sohn!«, rief sie und warf sich auf ihn. Mit ansehen zu müssen, wie Yehudas Kopf immer wieder auf die marmornen Bodenplatten schlug, war unerträglich. Seine Muskeln zuckten und verkrampften sich. Erbrochenes rann ihm von den Lippen. Und ein weiterer, noch unansehnlicherer Fleck breitete sich auf dem weißen Rock aus …
Sein eigens dafür ausgebildeter Diener eilte mit einem Kissen sowie mit Bändern zum Fixieren der Handgelenke hinzu. Mehr als abzuwarten, bis der Anfall vorbei war, und zu verhindern, dass Yehuda sich verletzte, konnte man nicht tun. Danach würde der Diener ihn baden, frisch einkleiden und zu Bett bringen. Den Rest des Tages würde Yehuda im Tiefschlaf verbringen.
Zira ließ sich auf eine Marmorbank sinken und schlug die Hände vors Gesicht. »Asherah, beschütze meinen Sohn«, schluchzte sie. Doch selbst jetzt, da sie Zeuge eines dieser grauenhaften Anfälle geworden war, blieb ihr Verstand scharf und klar: Wenn Yehuda nicht bald mit dem Rab sprach, würde sie eben selbst um Audienz bei ihm nachsuchen, um zu erreichen, dass Yehuda umgehend seine Berufung erhielt, andernfalls würde sie ihre über die Jahre hinweg beträchtlich angewachsene Unterstützung zur Finanzierung der Bruderschaft zurückverlangen.
Zuvor aber wollte sie zum Tempel des El, dem Allmächtigen Vater, um ihm ein Opfer darzubringen und den Großen Gott zu bitten, ihren Sohn von diesem grässlichen Leiden zu erlösen.
Misstrauisch beäugte Avigail den Hausierer. Dass durchziehende Händler am Tor der Villa vorsprachen, war nicht ungewöhnlich, da das Haus an der Verbindungsstraße zu
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