Im Auge des Feuers
Räumen. Dazu Holzherd, Schimmel und feuchte Flickenteppiche. Ihre eigene Vergangenheit.
Auf der Holzbank im Raum neben der Küche lag Rita. Gunhild sah die Beule auf Ritas Stirn, groß wie ein Tischtennisball, und den Schnitt über dem Auge.
Rita war jetzt bewusstlos. Der Schlag gegen die Stirn und der Alkohol waren nicht die einzigen Gründe dafür. Gunhild hatte da schon noch ein wenig nachhelfen müssen.
Sie hatte in Ritas Jackentasche ein Tablettenröhrchen gefunden. Die Sorte kannte sie aus Spanien. Hastig hatte sie ein paar Tabletten zerrieben und sie Rita mit etwas Wasser eingeflößt.
An dieser Überdosis würde Rita aber nicht sterben. Sie würde lediglich tief und lange schlafen, bis sie erfröre.
Die Temperatur in dem nicht isolierten Haus war fast die gleiche wie draußen, acht Grad minus. Das kalte Wetter sollte noch mindestens eine Woche anhalten. Falls Rita jemals wieder erwachen sollte, wäre alles aus ihrem Gedächtnis verschwunden.
Gunhild zog den vergilbten Umschlag hervor, auf dem in Maschinenschrift Andreas Fjeld stand. Er enthielt Dokumente, die sieein ganzes Leben lang aufbewahrt hatte: die Beweise für Karls Unterschlagung im Betrieb; ihre eigenen Briefe an Andreas Fjeld mit den Informationen über Ritas angebliche Affäre mit Oscar. Außerdem hatte sie hier jahrzehntelang den teilweise unterschriebenen Ehevertrag zwischen ihr und Karl aufbewahrt. Ebenso den »Nachweis« ihrer Schwangerschaft und die Unterlagen zum Wohnungskauf in Spanien – lauter feine Geschichten, die jetzt im Zuge der Ermittlungen ans Licht kommen mussten.
Sie hatte vorgehabt, Rita alles zu zeigen. Es sollte so richtig krachen. Gunhild wollte Rita genüsslich unter die Nase reiben, dass sie die Unterlagen bald der Presse zuspielen würde.
Schon damals hatte der Umschlag seine Wirkung nicht verfehlt. Nein, sie hatte Andreas Fjeld damit nicht unter Druck gesetzt, ganz und gar nicht. Das war nie notwendig gewesen. Er hatte sofort verstanden, dass es ihr ernst gewesen war. Dass sie bald Karls Verlobte geworden wäre und damit die rechtmäßige Erbin an Karls Stelle.
Arme Rita! Jetzt musste jeder glauben, sie habe allen Grund gehabt, zu viele Tabletten zu schlucken. Gunhild drapierte den Umschlag gut sichtbar neben dem bewusstlosen Körper. Die Kopien hiervon waren bis zu seinem Tod in Andreas Fjelds Besitz gewesen.
Aber wie oft verirrte sich eigentlich jemand hierher? Wer würde schon im Winter auf die Idee kommen, diese schäbigen Behausungen zu besichtigen? Vielleicht würde es bis zum Frühling dauern, bis sich wieder jemand für diesen Ort interessierte. Wie viel würde man dann noch über Ritas Tod herausfinden können – abgesehen davon, was man aus der Flasche, dem Tablettenröhrchen und dem braunen Umschlag schließen würde?
Die Versuchung, einfach zu gehen und Rita dem sicheren Tod zu überlassen, war enorm. Unzählige Male hatte Gunhild geträumt, dass sie Rita elendig verenden ließe. Irgendetwas hielt sie jedoch zurück.
Es war zu einfach. Warum sollte diese Person so leicht davonkommen? Die schlimmste Strafe für Rita wäre doch, nach dieser Geschichte wieder unter die Leute gehen zu müssen. Angegafft zu werden, Gegenstand von Tuscheleien auf der Straße zu sein, zu wissen, dass andere über sie und ihre Brüder Bescheid wussten.
Gunhild wühlte in den Taschen und fand Ritas Handy. Eiras Nummer war sofort abzulesen. Er hatte Rita im Laufe des Tages mindestens zehnmal zu erreichen versucht.
Es war schwierig, die Tasten mit Handschuhen zu betätigen, und hier draußen gab es nur ein schwaches Netz. Gunhild gelang es dennoch, die SMS zu senden. »Haus 8 in Hella. Hilfe!«
Fünf Minuten später tastete sie sich den Weg hinunter. Das Meer war unruhig. Laut klatschten die Wellen gegen die Felsen, bevor sie wieder zurückgesogen wurden. Die Dunkelheit war so undurchdringlich, dass es Gunhild unmöglich war, sich daran zu gewöhnen. Sie rutschte auf den Felsen aus und hätte fast den Halt verloren. Erschrocken klammerte sie sich an Zweige und Heidekraut.
Als sie zurück auf der Hauptstraße war, regnete es noch immer. Eiskalter, peitschender nordnorwegischer Regen durchnässte die Kleidung. Endlich fand sie die Bushaltestelle wieder und fühlte sich eigenartig leicht.
Kurz vor der Brücke über den Sund schaltete Eira das Blaulicht wieder ein.
Im nächsten Moment läutete schon wieder sein Handy. Berger hielt sich genervt die Ohren zu.
Offenbar arbeiteten die Kriminaltechniker auf Hochtouren. Er
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