Im Auge des Feuers
Platz für andere, wenn Rita im Raum war.
Kurz bevor die Abendnachrichten gesendet wurden, war Johan überzeugt, dass sie mit der Nachricht vom heimgekehrten Bruder beginnen würden. Es schüttelte ihn unwillkürlich bei dem Gedanken an die Sensationslust der Journalisten.
Aber Johan hatte sich getäuscht. In den Nachrichten wurde Karl Fjeld mit keinem Wort erwähnt.
»Nun sieh mal einer an, was soll dein ganzes Gerede über Karl?« Ritas Tonfall war noch herablassender als zuvor.
Johan begann nun selbst an seinem Wahrnehmungsvermögen zu zweifeln. Hatte heute überhaupt jemand an seiner Haustür geklingelt?
Nach ein paar großzügig bemessenen Gläsern Cognac und einigen unergiebigen Stunden bei Rita war Johan schließlich in derVerfassung, wieder nach Hause zu gehen. Zudem verspürte er einen immensen Hunger. Rita hatte ihm wie üblich nichts angeboten und Johan wollte sich keinesfalls so weit vor der Schwester erniedrigen, sie um Essen zu bitten.
Sie wohnten nur zehn Minuten Fußweg auseinander. Die Abendluft war ruhig und kalt. Johan machte einen Abstecher ins Stadtzentrum und aß in einem Lokal Unmengen Tapas. Anschließend besorgte er sich bei einem Fastfood-Restaurant noch einen Hamburger und eine große Portion Pommes. Im Grunde war Essen das beste Rauschmittel, dachte er, als er mit herrlich schwerem Magen in sein Bett fiel.
Plötzlich weckte ihn ein Geräusch. Ein Klicken an der Haustür. Unmittelbar danach hörte er die quietschenden Angeln der Küchentür. Er hatte sich noch nicht dazu aufraffen können, sie zu ölen.
Johan sprang auf und lief zum Fenster. Draußen waren keine Autos zu sehen. Rita hatte einen Schlüssel, aber sie kam nie ohne Auto, jedenfalls nicht um diese Zeit.
Er verhedderte sich in seinem Morgenmantel, als er zur Treppe schlich. Sein Herz hämmerte bis in den Schädel. Unsicher klammerte Johan sich ans Geländer und fluchte innerlich darüber, dass er alle Lampen ausgeschaltet hatte.
»Ist jemand zu Hause?«
Johan erstarrte.
Die vom Fuß der Treppe heraufschallende Stimme klang vertraut. Nur der Akzent passte nicht dazu.
Jemand stand an der Treppe, offenbar auf dem Weg nach oben.
»Was … wer zum Teufel …?« Jeder Muskel in Johans Körper spannte sich an.
Die Gestalt setzte sich in Bewegung. Kurz darauf flutete Licht durch die Diele. Der Mann war jetzt so nah, dass es keinen Zweifel mehr gab. Hier stand Karl.
»Gut siehst du aus, Johan.«
Johan fiel keine Antwort ein. Dieser Mensch musste sich mit größter Selbstverständlichkeit selbst die Tür aufgeschlossen haben, und das, nachdem er beinahe vierzig Jahre fort gewesen war.
»Ich bin schon zweimal hier gewesen und habe geklingelt. Keiner hat mir geöffnet. Ich fand es an der Zeit, den alten Schlüsselbund zu benutzen, den ich aus irgendeinem unerklärlichen Grund die ganzen Jahre behalten habe.« Karl trat noch ein paar Schritte näher heran.
Er wirkte bedeutend jünger, als er war. Mit dem Pferdeschwanz, dem Lederband um den Hals und dem lose über der Jeans hängenden Hemd legte er es auch sicher darauf an.
»Vielleicht habe ich den Schlüsselbund ja nie weggeworfen, weil daran das Škodazeichen hängt. Mein allererstes Auto.« Er setzte das makellose Lächeln eines Filmstars auf und hielt die Schlüssel hoch. Johan ließ die Schultern sinken. Das war der letzte Beweis, auch wenn Johan diesen gar nicht mehr benötigt hätte. Der Mann war Karl. Johan erinnerte sich nur zu gut an den Schlüsselbund.
»Hier hat sich rein gar nichts verändert. Du scheinst im Grunde derselbe zu sein wie in deiner Jugend. Und mein altes Elternhaus hat noch immer das Türschloss der sechziger Jahre.« Karl kam heran, streckte die Hand aus. Johan ergriff sie nicht.
»Du … das …« Johans Stimme zitterte. »Wenn ich an all die Trauer und Verzweiflung denke, die du verursacht hast …« Vielleicht sollte er froh, sogar überglücklich sein. Aber er empfand nur Wut. »Als sei nichts geschehen, tauchst du einfach hier auf …« Er schluckte, sein Mund war trocken. »Ach ja, natürlich. Vaters Tod, Testamente und dergleichen …«
Karl hielt beide Hände hoch. »Okay, ich hätte vielleicht anrufen sollen. Bevor das Postschiff am Kai angelegt hatte und ich den Besitz mit eigenen Augen gesehen hatte, war ich mir nicht sicher,ob ich hierherkommen wollte. Ich bin über vieles im Zweifel gewesen, es gibt etliche Dinge zu erklären.« Er sah plötzlich müde aus. »Lass uns morgen darüber reden. Ich schlafe in meinem alten Zimmer.«
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