Im Auge des Feuers
kühlen Abendwind herrühren, der vom Fluss hinaufwehte, dachte Eira und versuchte, sein schlechtes Gewissen wegen seines barschen Tons zu beschwichtigen. Mit Allwetterjacke und Wanderstiefeln war sie passend gekleidet, und dieser Anblick steigerte sein Zutrauenzu ihr, wie ungern er das auch zugeben wollte. Still folgte er ihren Bewegungen, während sie die Leiche untersuchte.
»In Ordnung.« Sie nickte den Männern zu, die bereitstanden, um den Toten vom Berghang wegzutransportieren, und trat zu Eira. Ein paar Minuten lang sagte keiner von ihnen etwas, bis Eira das Schweigen brach. »Nun?«
»Wenn die Frage auf irgendwelche Erkenntnisse abzielen sollte, dann habe ich nichts Erfreuliches für Sie. Der Mann ist bereits eine Weile tot, mindestens vierundzwanzig Stunden.«
»Glauben Sie, er ist hier getötet worden?«
Sie schwieg wieder einen Moment und sah sich um. »Nein«, sagte sie bestimmt. »Mit größter Wahrscheinlichkeit war er schon eine ganze Zeit tot, bevor der Kopf abgehauen wurde, es sei denn, man hat eine große Plane unter ihn gelegt. Hier ist nirgends Blut, wie Sie bemerkt haben werden.«
»Der Mann sah auch nicht ganz jung aus, nach dem zu urteilen, wie faltig die Haut seiner Hände war.«
Sie nickte. »Hatte er Papiere?«
Eira schüttelte den Kopf. Sie hatten keinerlei Dokumente bei ihm gefunden. Nichts, was ihn hätte identifizieren können.
Die junge Ärztin packte ihre Sachen zusammen und murmelte einen kurzen Abschiedsgruß. Dann folgte sie Berger und den Männern, die den Toten hinunter zum Krankenwagen brachten.
Eira stand noch immer auf demselben Fleck und beobachtete die Techniker, die das Gebiet sorgfältig absuchten. Von seinem Standort aus konnte er den nach unten führenden Pfad sehen. Auf beiden Seiten des Flusses verliefen Wanderwege. Niedriges Birkendickicht machte es unmöglich zu überblicken, wer sich womöglich noch in der Gegend befand. Eira schüttelte die steif gewordenen Beine und registrierte, dass ein Fuß eingeschlafen war.
Jemand musste den Mann kennen. Irgendeiner würde ihn als vermisst melden.Langsam fuhr Eira die holprige Straße am Flussufer hinunter. Die Brücke vom Tal hinüber zur Insel Tromsøya, auf der das Zentrum der Stadt lag, war zwei Kilometer lang. Wie immer öffnete sich hier der Blick auf das SAS-Hotel und die Gebäude, die errichtet worden waren, nachdem der Stadtbrand 1969 fünfundzwanzig Häuser zerstört und fünfunddreißig beschädigt hatte. Eira registrierte, dass die verbliebene Holzhausbebauung immer mehr von Hochhäusern verdrängt worden war, trotz der nach dem Brand ausgearbeiteten Denkmalschutzpläne. Sein Blick fiel auf die alte Schiffswerft am Brückenkopf, die bald ein pulsierendes Einkaufsund Vergnügungszentrum wie Aker Brygge in Oslo werden sollte. Dann erhöhte Eira das Tempo und machte einen kurzen Abstecher nach Hause in die Nordre Tollbugate, um Hausaufgaben zu kontrollieren und Essen zu kochen. Gerade als er dort ankam, fuhr ein wohlbekanntes Auto vor seiner Tür vor. Der stramm gespannte Pferdeschwanz war Eira vertraut. Auch der energische Gesichtsausdruck ließ keinen Irrtum zu.
»Hey, Eira.« Kine Berger sah ihn forsch an. »Hast du hierfür etwa Zeit? Sie warten schon auf dich, zumindest auf deinen Bericht.«
Niillas war offensichtlich noch nicht nach Hause gekommen. Resigniert sperrte Eira die Tür auf und stapfte in die kleine Diele. Dort stolperte er über die Schuhe des Jungen, aus denen der gestern einfach rausgeschlüpft war, ohne sie anschließend zum Trocknen zu stellen. Eira rückte den Gitarrenkasten behutsam an der Wand zurecht. Er wohnte in der Nähe des Polizeipräsidiums und hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, kurz vorbeizukommen und nachzusehen, ob sein Sohn zu Hause war und auch sonst alles seine Ordnung hatte.
»Diese zusätzlichen Minuten genehmige ich mir, Berger. Gibt’s was Neues?« Er sah sich im Wohnzimmer um. Die gesamte Planung für den restlichen Tag mit Fliegenbinden am Abend warlängst über den Haufen geworfen worden. Auf dem Tisch lag der Stapel Zeitungen, die er noch nicht gelesen hatte.
»Wir haben die Liste der Vermissten überprüft. Keiner passt zu der Beschreibung, auch wenn der fehlende Kopf natürlich ein Problem darstellt.« Sie erschauderte unwillkürlich. »Also ehrlich. Jemand köpft eine Person und versteckt sie in unzugänglichem Gebiet direkt vor der Stadt. Das ist …« Ausnahmsweise fand Berger keine Worte.
»Die Wandersaison ist auf ihrem Tiefpunkt. Bald beginnt
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