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Im Auge des Orkans

Im Auge des Orkans

Titel: Im Auge des Orkans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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des Sacramento River
hin. Während ich die Hauptstraße entlangfuhr, fiel mir die stille, altmodische
Atmosphäre des Ortes auf. Viele der Zement- oder Fachwerkhäuser hatten im
ersten Stock einen Balkon, wie die Chinesen sie lieben. Auf den schmalen
Bürgersteigen waren kaum Leute zu sehen. Die paar Fußgänger, die ich entdecken
konnte, starrten dem MG nach, als hätten sie noch nie einen ausländischen Wagen
gesehen. Ich war froh, als ich eine der Adressen von Angela fand und aussteigen
konnte. Zu Fuß fiel ich weniger auf.
    Das Haus war ein Fachwerkhaus nach
chinesischer Art und stand direkt am Gehsteig. Häßliche dunkelgrüne Rolläden
waren an den Fenstern der Straßenfront heruntergezogen. Überall blätterte die
Farbe ab. Ich klopfte an die Haustür, die dabei in ihren Angeln wackelte, und
schon ein paar Sekunden später wurde sie von einer jüngeren Chinesin in Jeans
und T-Shirt geöffnet. Auf dem T-Shirt stand: Ich hör das Gras wachsen.
    Unwillkürlich mußte ich lächeln, und da
lächelte die Frau, die mich erst mißtrauisch angeblickt hatte, auch. Als ich
mich nach Jim Loo erkundigte, antwortete sie: »Er arbeitet diese Woche in
Carmichael drüben. Kann ich Ihnen helfen? Ich bin seine Frau.«
    »Ich bin vom Bootel auf Appleby
Island«, sagte ich. »Wir würden gern wissen, ob er Lust hat, wieder bei uns zu
arbeiten.«
    Ihr Lächeln verschwand. »Das bezweifle
ich.«
    »Wir haben nie genau erfahren, warum er
aufhörte. Können Sie uns erzählen, was tatsächlich der Grund war?«
    Sie biß sich nervös auf die Lippen. »Es
hatte was mit einem der anderen Arbeiter zu tun, mit Eddie Huey.«
    Eddie gehörte zu den drei Leuten, die
in Locke wohnten. »Was war los mit ihm?«
    »Eddie fuhr die andern, Jims Laster war
kaputt — die Leute in Carmichael haben ihm einen Vorschuß gegeben, und da
konnte er ihn reparieren lassen und da keiner sonst einen Wagen besaß, gab es
für Jim keine Möglichkeit mehr, nach Appleby Island zu kommen, als Eddie
erklärte, er würde dort nicht mehr arbeiten wollen.«
    »Was war der Grund?«
    »Irgendwas hat ihm einen Schrecken
eingejagt, irgendwas, das er gesehen hat. Mehr hat er nicht erzählt. Aber er
sagte zu Jim, er würde nicht mehr hinfahren, und wenn sein Leben davon
abhinge.«
    »Und Jim hat keine Ahnung, was Eddie
wirklich gesehen hat?«
    »Nein. Vielleicht hat Eddie es Dan und
Charlie erzählt, sie sind befreundet, sie wohnen alle in Locke. Aber Jim hat
nichts verraten, auch nicht Chuck, dem anderen Mann der Gruppe, der hier
wohnt.« Sie zuckte mit den Achseln. »Die sind doch alle verrückt in Locke. Ich
weiß nicht einmal, was die Kerle dort eigentlich machten. Ich meine, alle Leute
dort sind so alt. Ich würde es auch mit der Angst zu tun bekommen, wenn
ich nie einen Menschen unter neunzig zu Gesicht bekäme.«
    Ich war zwar mit diesem psychologischen
Porträt nicht ganz einverstanden, doch ich machte keine Bemerkung darüber,
sondern bedankte mich und fragte, wie ich Chucks Pension finden könnte. Sie
beschrieb mir den Weg und sagte abschließend: »Sagen Sie ihm, er soll am
Wochenende vorbeikommen, wenn Jim da ist. Wir haben ihn schon ein paar Wochen
lang nicht mehr gesehen.«
    Ich versprach es, konnte aber, wie sich
herausstellte, die Nachricht nicht an den Mann bringen. Die Pension war ein
schäbiges zweistöckiges Gebäude mit einer wackligen eisernen Außentreppe, von
der die Zimmer abgingen. Chucks Zimmertür stand offen, die eiserne Bettstelle
mit der durchgelegenen Matratze ohne Laken sprach ihre eigene Sprache. Zwei
verbogene Drahtbügel auf dem staubigen Boden waren die einzigen Zeugen, daß
hier einmal jemand gewohnt hatte. Ich klopfte an die Nachbartüren, doch kein
Mensch war da. Schließlich fand ich einen alten Japaner, aber der sprach kein
Englisch. Da gab ich auf, ging zu meinem Wagen und fuhr nach Locke.
    Kaliforniens letzte ländliche
Chinesengemeinde zog sich entlang der Deichstraße und unterhalb des Deiches
nördlich von Walnut Grove hin. Der Ort erinnerte mich zuerst an die Kulisse zu
einem Westernfilm: hölzerne Gehsteige und Treppen, Geländer, an denen man
Pferde anbinden konnte, Farmgebäude, die zu einem tiefen Braun und dunklen Grau
verwittert waren. Doch es gab feine Unterschiede: die schwungvollen Torbogen
zwischen manchen Häusern, die Balkons im ersten Stock, die chinesischen
Schriftzeichen auf staubigen Schaufenstern. Ein paar Läden waren renoviert
worden und frisch gestrichen — sie verkauften Antiquitäten. Ich fragte mich,
wie

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