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Im Auge des Orkans

Im Auge des Orkans

Titel: Im Auge des Orkans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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Schlechtes
sei. Ich fürchte, das hat sich mir auch eingeprägt. Bei Neal bin ich nicht so
sicher, und das ist der Grund, warum ich hier bin.«
    Ich hätte ihm gern noch eine Menge
Fragen gestellt, doch da stürmte Denny zur Haustür herein, mit Neal im
Schlepptau. Ich hob den Arm, deutete auf meine Armbanduhr und rief: »Eine halbe
Stunde!«
    Denny rollte die Augen und kicherte — für
einen so großen Mann erstaunlich hoch. Sam lachte, was mich an das Bellen eines
Foxterriers erinnerte, und Neal verzog die Lippen, weil er nicht entdecken
konnte, was wir so komisch fanden.
    Denny bemerkte seine Verwirrung und
nutzte sie aus: »Du mußt dich ums Dinner kümmern, Neal, du willst doch nicht
alles Evans überlassen.«
    »Warum nicht?«
    »Heute ist ein besonderer Anlaß: Sams
erster Abend auf der Insel.«
    Neal zögerte, dann hastete er in
Richtung Küche davon, etwas von teuren australischen Hummern murmelnd, die
nicht verkochen dürften.
    »Was macht Evans nun, wenn Neal
erscheint und ihn beaufsichtigen will?« fragte ich.
    »Er gibt ihm Arbeit und das Gefühl, die
Verantwortung zu haben. Wir haben den Plan zusammen ausgeheckt.« Zu Sam
gewandt, fügte Denny entschuldigend hinzu: »Neal ist ein netter Mensch, aber
manchmal regt er sich zu sehr auf und macht die Dinge schwieriger, als sie sein
müßten. Vermutlich kennen Sie das ja.«
    »Sie sind gut mit ihm fertig geworden.«
Sam sah zum Torbogen, durch den Neal verschwunden war. »Wie lange ist er schon
so nervös?«
    »Nun, er war schon immer so, aber seit
Sie anriefen, um zu sagen, daß Sie ihn besuchen wollten, ist es noch schlimmer.«
    »Verdammt, ich wollte ihn nicht
beunruhigen.«
    »Es ist nicht nur wegen Ihnen. Die
Küchenschaben, die Arbeiter, die nicht mehr kommen, und diese gemeine Puppe — «
    »Was für eine Puppe. Wovon reden Sie?«
    »Kein Wunder, daß er nervös ist. Er
verschweigt Ihnen eine ganze Menge. Ich glaube, Sie sollten ihn mal ausfragen.«
    »Warum erzählen Sie es mir nicht?«
    »Nein, Neal muß das tun.«
    Einen Augenblick schien es so, als
wollte Sam Denny weiter bedrängen, doch dann nickte er nur. »Okay. Ich werde
ihn fragen. Jetzt fangen wir lieber mit unserer Besichtigungstour an.«
    Wir begannen im Untergeschoß. Die
Wannen und Eimer waren verschwunden, das Loch in der Decke provisorisch
geflickt. Denny führte uns herum, sprach über die Gesundheit der Baumasse und
die Lebensdauer von Leitungen. Sam hörte aufmerksam zu und stellte manchmal
fachmännische Zwischenfragen. Wir machten auch Angela im Büro einen kurzen
Besuch. Ihr Schreibtisch war bedeckt mit Computerausdrucken, wie ich annahm, um
Sam zu imponieren. Sie schenkte Sam ein kurzes, professionelles Lächeln, für
uns andere hatte sie keinen Blick.
    Während wir die Treppe hinaufgingen,
sagte Sam mehr zu sich selbst als zu Denny und mir: »Die Frau kann sich nicht
entspannen, nie.«
    »Weshalb ist sie so?« fragte Denny.
    »Angela ist eine Frau voller
Widersprüche. Bei ihr ist alles Liebe oder Haß.«
    Wir standen jetzt wieder in der Halle.
»Was meinen Sie damit?« fragte Denny.
    »Ihre Persönlichkeit hat viele
gegensätzliche Seiten — wer hätte die nicht — , aber sie kann sie nicht
miteinander in Einklang bringen.« Als Denny immer noch ein fragendes Gesicht
machte, fügte Sam hinzu: »Hier ein Beispiel. Wir sind zusammen zur Schule
gegangen, in Michigan, und Angela gefiel mir, und ich wollte mich mit ihr
verabreden. Sie war einverstanden, gemeinsam mit mir zu lernen oder mit andern
zusammen irgendwohin zu gehen, mehr nicht. Der Grund? Sie war Chinesin, ich ein
Weißer, und die mischen sich nicht.«
    »Das ist doch keine besonders
ungewöhnliche Einstellung«, bemerkte ich.
    »Aber sie haßt es, Chinesin zu sein.
Sie behauptet, daß sie deshalb beruflich keinen Erfolg hat. Und weil sie eine
Frau ist. Vielleicht steckt ein Körnchen Wahrheit darin, aber statt ihre
Energien darauf zu verwenden, das zu ändern, ärgert sie sich — und davon hat
niemand etwas.«
    Sams Worte konnten eine Erklärung dafür
sein, daß Angela mich so seltsam behandelte. Sie reagierte nicht auf mich
persönlich oder meinen Beruf, sondern auf mich als Frau — eine
Geschlechtsgenossin, die allein durch ihre Zugehörigkeit zu diesem Geschlecht
ihr den Zugang zu Erfolg und Macht verwehrt hatte. »Was ihre Herkunft betrifft,
so ist sie in dieser Beziehung genauso zwiespältig. Ihre Familie war ziemlich
arm, sie hatten ein Restaurant in Sacramento, und sie bekam ein
Universitätsstipendium.

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