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Im Auge des Orkans

Im Auge des Orkans

Titel: Im Auge des Orkans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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Bäume waren alt und verwittert,
viele Stämme hohl, und doch trugen sie alle noch einen feinen Schleier grüner
Blätter. Ich blieb bei der ersten Reihe stehen und blickte zum Herrenhaus
zurück. Von hier aus konnte man das Fenster, aus dem Eddie Huey gesehen haben
mußte, deutlich erkennen.
    Wahrscheinlich war der »Geist« mit
einem Boot gekommen, hatte es irgendwo versteckt, sich die Lumpen angezogen und
mit dem Henkerstrick in der Hand bei den Bäumen gewartet, bis man ihn
entdeckte. Er hatte den Strick geschwenkt und sich dann aus dem Staub gemacht.
    Ich wandte mich ab und ging die
Baumreihen entlang, wobei ich vermied, auf die faulenden Birnen am Boden zu
treten. Der Garten reichte, soweit ich sehen konnte. Der steile Wall des
Deiches, der zweifellos das ganze Eiland umschloß, begrenzte ihn. Ich kletterte
auf den Deich. Das Ufer des toten Wasserarms war mit Schilf bestanden, hier
hatte kein Ruderboot anlegen können. Vielleicht würde ich mir später ein
Motorboot ausleihen, um die Insel fahren und nach einem geeigneten Landeplatz
suchen, der einen unauffälligen Zugang zur Insel bot.
    Ich sah auf meine Uhr. Ich war schon
fast eine halbe Stunde hier draußen. Während ich durch die Bäume
zurückwanderte, überlegte ich, an welchem Ast wohl die Puppe gehangen hatte.
Die seltsamen Formen der Stämme fesselten mich, und ich wünschte, ich hätte
meine Fotoausrüstung mitgebracht. Ich bin ein begeisterter Amateurfotograf,
auch wenn der Apparat manchmal monatelang im Schrank liegt, ohne daß ich ihn
benütze.
    Ein besonders bizarrer Stammrest fiel
mir auf, in dessen Innerem es weißlich schimmerte, was mich wunderte, denn die
Sonne konnte es nicht sein. Das war auch gar kein Licht, das war... Plastik.
    Ich langte in den Stamm. Was ich dann
in den Händen hielt, war eine Plastiktüte aus dem Supermarkt, etwas feucht,
wohl vom Regen der vergangenen Nacht.
    Drinnen steckte ein Männerhemd — blau,
mit Löchern und Rissen. Beide Ärmel fehlten. Außerdem fand ich noch eine Hose —
ausgefranst, mit Rissen an den Knien. Und als letztes kam ein Stück Seil zum
Vorschein, zusammengeknotet zu einer Schlinge. Ein Schauer der Erregung
überlief mich, doch dann mußte ich lachen. Wie absurd, ein Beweisstück in einem
hohlen Baum zu finden. Alf Zeislers Geist ging mit seinen Besitztümern sehr
sorglos um, dachte ich. Aber eigentlich hatten Geister keine Besitztümer. Und
eigentlich liefen normale Leute auch nicht in Lumpen umher und wedelten mit
Seilschlingen.
    Aber warum waren die Sachen hier
versteckt worden? Warum waren sie aufbewahrt worden? Doch wohl, um sie noch
einmal zu verwenden!
    In einem ersten Impuls wollte ich das
Zeug mitnehmen und als Beweisstück A den anderen zeigen. Doch dann versteckte
ich die Tüte mit Inhalt wieder dort, wo ich sie gefunden hatte. Mal sehen, was
der »Geist« als nächstes tat.
    Vorsichtig blickte ich mich um, ob mich
jemand hätte beobachten können. Dann mußte ich wieder lachen. Im Obstgarten war
es viel zu still, als daß sich jemand unbemerkt hätte heranschleichen können.
So still wie im Grab.
     
    Als ich ins Haus zurückkehrte, war nur
Sam Oliver in der Halle. Er saß auf der Treppe, die Ellbogen auf die Knie
aufgestützt, und deutete bei meinem Anblick auf seine Uhr. »Eine halbe Stunde«,
sagte er.
    Ich lächelte und setzte mich neben ihn.
»Hier herrscht Delta-Zeit, daran müssen Sie sich gewöhnen.«
    »Und das heißt?«
    »Meiner — kurzen — Erfahrung nach: fast
immer zu spät.«
    »Das macht mir nichts aus. Mein Bruder
denkt offenbar, daß dieser Besuch so eine Art Inquisition ist, aber für mich
bedeutet er Urlaub.«
    »Sie stammen aus Detroit, nicht wahr?«
    »Aus Birmingham, etwa zwanzig Minuten
nördlich vom Zentrum.«
    »Ein sehr feines Viertel, wie ich
gehört habe.«
    »Ja, schon. Unsere High-School wurde in
einer Illustrierten mal als Spielplatz für reiche Kinder dargestellt. Die Fotos
dazu zeigten einen Parkplatz voller Sportwagen. Zu meiner Jugendzeit gab es
allein schon drei Countryclubs, jetzt sind es sicherlich mehr.« Er grinste.
»Aber Neal und ich hatten keinen Sportwagen, wir fuhren mit dem Bus. Im Sommer
half ich im Countryclub, Neal führte Hunde aus, um das Taschengeld aufzubessern.
Meine Mutter putzte das Haus selbst, und ein eigenes Konto hatten wir Kinder
auch nicht.« .
    »Aber ich dachte, Ihre Familie hätte
viel Geld.«
    »Schon. Aber mein Vater arbeitete lange
und hart dafür, und er und meine Mutter fanden, daß Verschwendung etwas

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