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Im Auge des Orkans

Im Auge des Orkans

Titel: Im Auge des Orkans Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcia Muller
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lieber noch etwas schlafen
und dann zum Mittagessen kommen.«
    »Es ist schon halb eins!« Sie schwieg
eine Weile und fügte dann hinzu: »Ich komm gegen drei wieder. Laß dir den
Kaffee schmecken.« Die Zimmertür schloß sich, nicht allzu sanft.
    Ich nahm die Shamponflasche, goß etwas
Flüssigkeit in die Hand und begann, mir das Haar zu waschen, das völlig
verfilzt war. Max Shorkey war tot und lag vermutlich auf dem Grund des
Wasserarms. Ein Mörder lief frei herum, vermutlich sogar hier auf der Insel.
Ich war mit knapper Not dem Tod entronnen und nicht sicher, ob ich nicht eine
Lungenentzündung bekommen würde. Andrew hatte sich den Arm gebrochen,
Stephanies kostbare Boote waren weg. Aber meine kleine Schwester ärgerte sich,
weil ich nicht frühstücken wollte und nicht aus der Dusche gekommen war.
    Ich kämmte mir das Haar aus, was
ziemlich mühsam war, und trocknete es mit dem Fön, den ich im
Badezimmerschränkchen entdeckte. Dann verbrachte ich noch eine gute Stunde im
Bett, trank den starken Kaffee und dachte über die gestrigen Ereignisse nach.
Ich mußte mir eine Strategie für meine weiteren Nachforschungen zurechtlegen.
Bei dem Nebel würde ich nicht von der Insel wegkommen, aber das war auch nicht
notwendig. Meiner Überzeugung nach konnte ich von den Menschen hier im Haus
mehr erfahren.
    Ich überlegte, wie wehrlos wir
eigentlich alle waren, falls der Mörder noch einmal wiederkam. Mir fiel die
Waffe ein, die ich im Handschuhfach des MG eingeschlossen hatte. Vielleicht
sollte ich sie holen...
    Nein, das ging nicht. Gewöhnlich trage
ich meine 38er im Außenfach meiner Handtasche, aber ich konnte schließlich
nicht die Tasche überall mit herumschleppen. Und sie einfach in den Hosenbund
stecken — das würde bei Erwachsenen wie Kindern Panik erwecken. Im Zimmer
konnte ich sie auch nicht unbewacht zurücklassen. Eines der Kinder konnte die
Waffe finden. Nein, besser, ich ließ sie, wo sie war. So kritisch war die Lage
nicht — zumindest nicht am hellen Tag.
     
    Als ich hinunterkam, ging ich den
Klängen klassischer Musik nach, die aus dem Wohnzimmer drangen. Sam lag mit
ausgestreckten Beinen, die Arme über der Brust gefaltet, mit geschlossenen
Augen in einem Sessel. Entweder schlief er, oder er war in die Musik vertieft.
Denny hatte sich auf einer Couch ausgestreckt. Seine breite Brust hob und
senkte sich rhythmisch. Die Comics-Seite der Sonntagszeitung von San Francisco
lag auf seinem Gesicht, der Rest der Zeitung auf dem Boden. Ich hob sie auf und
betrachtete die Schlagzeilen. Sie waren nicht besonders fesselnd, und so ließ
ich die Zeitung wieder fallen. Sie hatte sich feucht angefühlt. Wahrscheinlich
war jemand nach Walnut Grove gefahren, um sie zu holen, und sie hatte sich mit
der Nässe des Nebels vollgesogen.
    Keiner der beiden Männer reagierte auf
mein Erscheinen. Dann sah ich, daß die Tür zur Bibliothek offenstand, zum
erstenmal seit ich hier war. Ich ging hinüber und warf einen Blick hinein. Der
Raum war voll altmodischer Ledersessel und Bücherregale mit Hunderten von schön
gebundenen Bänden. Unter den Regalen waren Schubläden und Schränkchen, genauso
reich geschnitzt wie die Tür. Im grauen Licht, das durch die mit schäbigen, einfachen
Gardinen geschmückten Fenstertüren fiel, sah ich, daß die Tapete verschossen
war und das Leder von Sofa und Sesseln Risse hatte. Auf dem Schreibtisch lag
eine dicke Staubschicht.
    »Hallo, Sharon!« rief eine Stimme.
    Ich blickte zum Sofa vor dem Kamin. Ein
Kopf war über seiner Kante aufgetaucht.
    »Hallo, Neal«, sagte ich.
    Er starrte mich mit gerunzelter Stirn
besorgt an. Sein Gesichtsausdruck, zusammen mit den schlafenden Schönheiten im
Wohnzimmer, erinnerte mich an Szenen aus englischen Clubs, wie man sie in alten
Filmen sieht.
    »Dürfen Sie schon aufstehen?« fragte
Neal nach einer Weile. »Warum nicht?«
    »Sie sind doch krank. Ich meine, Sie
haben viel durchgemacht und sollten sich ausruhen und — «
    »Bitte, Neal, bemuttern Sie mich
nicht.«
    »Oh.« Sein Kopf verschwand abrupt
hinter der Sofalehne. Ich ging um das Sofa herum und sah auf ihn hinunter. Er
trug einen zerdrückten schwarz-weiß karierten Bademantel und ebenso zerdrückte
Kordhosen und Socken. Aus dem Ausschnitt des Bademantels sah der Rollkragen
eines roten Pullovers hervor.
    Ich setzte mich ans andere Ende des
Sofas, neben einen großen Riß im Leder, und sagte zu dem schmollenden Neal:
»Ich bin Ihnen für Ihr Mitgefühl sehr dankbar, aber meine Schwester

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