Im Auge des Orkans
Ich habe kein Talent. Deine Mutter auch nicht.
Woher, glaubst du, hast du es?«
»Von meinem Vater.«
Andrew hatte seinen Vater nie gekannt.
Er hatte Patsy verlassen, als sie im sechsten Monat schwanger war. »Wer hat dir
das erzählt?«
»Niemand. Ich weiß es einfach.« Er
malte einen Flügel in Fuchsienrot und begann, ihn blaßgrün auszufüllen.
»Was hat Patsy dir von ihm erzählt?«
»Daß er nett war und sie ihn geliebt
hat. Aber Tom und Jeremy hat sie auch geliebt. Und die sind auch weggegangen.
Und jetzt liebt sie Evans, Und wir sollten ihn als unseren Vater betrachten.«
Ich begann zu ahnen, wo die Wurzeln für
Andrews neueste Feindseligkeit zu suchen waren. »Und was hältst du davon?«
»Überhaupt nichts. Ich bin zu alt für
einen neuen Vater.«
»Vielleicht könnte er dein Freund
sein.«
»Nein, dafür ist er zu alt.
Außerdem ist er der Grund, warum wir auf dieser blöden Insel sind.«
»Es gefällt dir hier nicht?«
»Ich hasse die Insel.«
»Warum?«
»Immer ist es kalt und feucht, und es
gibt keine Geschäfte, in die man gehen kann. Man kann hier so wenig
unternehmen, und ich habe keine Freunde.«
»Gehst du nicht in die Schule?«
»Doch. Ich fahr mit dem verdammten Bus
und muß nachher sofort nach Hause kommen. Wie soll ich da Freunde finden?«
»Weiß ich auch nicht. Muß hart sein.«
Er beäugte mich einen Augenblick mit
ernster Miene. »Du müßtest eigentlich sagen, daß ich mich glücklich schätzen
sollte, hier leben zu dürfen, und solchen Unsinn mehr.«
»Warum denn? Ich bin mir nicht sicher,
ob es stimmt.«
»Jetzt wirst du mir wohl ein paar
Ratschläge geben.« Es klang, als hielte er eine Grabrede.
»Nein, ich habe keine. Sicher ist es
das beste, wenn du im Bett bleibst.«
Meine Worte schienen ihm zu gefallen.
»Hör mal«, sagte er nach ein paar Sekunden. »Gestern hast du mich was gefragt,
und ich war auf alle so wütend, daß ich dir nicht antworten wollte. Wenn du
möchtest, kannst du mich jetzt noch mal fragen.«
»Du meinst, wegen dem, was vor deinem
Sturz passiert ist?«
»Ja.«
»Also, was ist passiert?«
Er mußte unwillkürlich lächeln. »Es war
so. Ich schlief, und dann war da so ein Klopfen am Fenster. Das weckte mich.
Ich ging hin, und alles, was ich sehen konnte, war eine Hand. Sie winkte, als
sollte ich rauskommen. Also zog ich Hosen und Parka an und lief raus. Und die
Gestalt bewegte sich durch den Garten mit den Wäschestangen. Ich folgte ihr
durch das Loch in der Hecke und hinauf zur Terrasse. Sie verschwand um die
Hausecke, als ich auf den Stufen ausrutschte.«
»Du sprichst von einer ›Gestalt‹. War
es ein Mann oder eine Frau?«
»Ein Mann ein großer Mann mit
auffallend langem Haar, das ihm unter einem riesigen Hut hervorhing.«
»Was hatte er an?«
»Zerlumptes Zeug, schwarze Hosen,
glaube ich, und einen braunen Regenmantel.«
Das klang nicht nach den
Kleidungsstücken, die ich im hohlen Obstbaum gefunden hatte, obwohl der Mann
bei der Fähre gestern abend auch so einen Hut getragen hatte. Vielleicht hatte
der »Geist« des verrückten Alf eine komplette Garderobe irgendwo versteckt.
Andrew beobachtete mich. Er hatte die
Rolle des starken Mannes aufgegeben und sah mich ängstlich an. »Es war der
Einsiedler, nicht wahr?«
»Der Einsiedler ist tot.«
»Ich meine, sein Geist.«
»So was gibt es nicht.«
»Wie willst du das wissen?«
»Da mußt du mir schon vertrauen,
Andrew. Ich weiß es einfach.«
»Dann war es ein richtiger Mensch.«
»Ja.«
»Und er hat mich rausgelockt.«
Das stimmte, und es gefiel mir gar
nicht. Ein Mann, der Erwachsene einzuschüchtern versuchte, vielleicht sogar
einen Erwachsenen getötet hatte, war eine Sache. Aber sich Kinder als Beute
auszusuchen...
Ich wollte nicht, daß Andrew merkte,
wie besorgt ich war, doch ehe ich noch etwas dagegen unternehmen konnte, sagte
er schon: »Du hast Angst.«
»Ein wenig.«
»Ich auch.«
»Das ist schon in Ordnung. Eigentlich
ist es sogar sehr gerissen. Wenn man Angst hat, bleibt man wachsam, und so
etwas wie gestern morgen kann nicht wieder passieren. Wenn du diese Gestalt
wiedersiehst, rufst du sofort einen Erwachsenen.«
»Okay.«
»Und inzwischen versuche ich, ihn zu
fangen.«
Das schien ihn zu beruhigen, denn er
begann wieder zu zeichnen.
Während ich zusah, wie Andrew die Form
eines alten, grotesken Baums zeichnete, kam mir eine Idee. »Hör mal«, sagte
ich. »Könntest du nicht den Mann zeichnen, den du gesehen hast?«
Er machte ein erstauntes
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