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Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sarkey
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vorstellen, wie wunderschön die Kleine sein wird?«
    »Die Kleine?« Tom lächelte. »Ich dachte, darüber hätten wir uns geeinigt. Du bekommst einen Jungen.«
    »Das kannst du dir aus dem Kopf schlagen. Ein kleines Mädchen wird dir total den Kopf verdrehen, und ich sehe dich nun mal gern zu Kreuze kriechen. Und jetzt …«, sie lehnte sich zurück, »bezahlst du bitte bei der netten Dame. Ich will nach Hause, mein neues Kleid anprobieren.«
    »Ich zieh es dir sowieso gleich wieder aus.«
    Anna hob eine Augenbraue. »Was denkst du, warum ich es überhaupt anziehe?«
     

6
     
    Sie saßen in einem Honda Civic, schwarz, zehn Jahre alt und schon seit längerem nicht mehr gewaschen – genau wie fünf oder sechs andere Autos, die in der Straße parkten. Eine perfekte Wahl. Jack hatte Wache gehalten, während Marshall den Wagen aufbrach, in einem Parkhaus an der Lake Street. Das Parkhaus war im Art-Déco-Stil gestaltet, mit einer Fassade, die wie der Kühlergrill eines Autos aussehen sollte. Der Honda stand genau dort, wo der Kühler gewesen wäre.
    Jack griff nach seinem Kaffee, trank den letzten kalten Schluck und warf den leeren Becher auf die Rückbank. Er versuchte, sich anders hinzusetzen, doch egal wie, unbequem war es immer. Drei Stunden parkten sie jetzt schon hier und sahen den Zivilisten zu, wie sie zu ihren miesen kleinen Jobs aufbrachen. Davon würde jeder einen steifen Nacken bekommen.
    »Immer noch keine Spur von Will«, sagte Marshall und trommelte mit einer Zigarette auf seinem Oberschenkel herum. Natürlich war sie nicht angezündet – Marshall rauchte nicht, hatte aber stets eine Schachtel dabei. Kann man immer gebrauchen, hatte er einmal gemeint, wenn man unauffällig an jemanden rankommen muss, oder um ein Mädel aufzureißen. »Denkst du, der kleine Arsch hat uns angelogen?«
    »Nein.«
    »Hast Recht. Nach der Nummer, die du da abgezogen hast, hätte er auch den Heiland persönlich verpfiffen.« Marshall setzte ein schmerzverzerrtes Gesicht auf und verstellte die Stimme zu einem wimmernden Piepsen. »Ohgottohgottohgott, bitte, nicht die andere Hand, bitte, ich sag euch, wo er ist, nur bitte nicht die andere Hand, bitte!« Er stieß einen Pfiff aus. »Heftig, dass du es dann trotzdem gemacht hast. Nachdem er geredet hatte.«
    »Ich musste sichergehen.« Ein flaues Gefühl breitete sich in Jacks Magen aus, als er wieder den Jungen vor sich sah, wie sie ihn zurückgelassen hatten: die Arme ausgebreitet wie am Kreuz, das Gesicht nach unten, mitten in der Blutpfütze, die sich rasch ausbreitete und den Holzboden verdunkelte, der dicke, grellrote Strahl, der aus seinem Genick schoss, als hätte man einen laufenden Gartenschlauch auf der Terrasse liegen gelassen … Jack schob das Bild beiseite, ein mentales Schulterzucken, das ihm immer leichter fiel. Schließlich war der Junge nicht sein Erster gewesen.
    »Armer Ray. Wirklich Pech, dass er ausgerechnet Wills Neffe war.«
    »Ja.« Mit den Fingerspitzen rieb sich Jack die Augen. »Armer Ray.«
    »Schon komisch, wie das Leben so spielt. Du ahnst nichts Böses, vielleicht guckst du dich gerade nach ’nem neuen Auto um oder überlegst, ob du bei deiner Freundin bleiben oder dich lieber nach ’ner neuen umschauen sollst, und dann zack! Frontalkollision mit dem Schicksal.«
    »Schicksal?« Jack zuckte die Achseln. »Das war kein Schicksal. Das waren wir. Wir haben das getan.«
    »Sicher. Wie sind eben die Schicksalsboten.« Marshall drehte die Zigarette zwischen den Fingern. »Sag mal, wie viele hast du eigentlich schon auf dem Gewissen?«
    »Ein paar.«
    »Und, erinnerst du dich an den Zweiten?«
    »Wie?«
    »Ich hab da so eine Theorie. Den Ersten vergisst man nie. Das ist, wie wenn man’s zum ersten Mal macht – das vergisst man auch nie. Also an mein erstes Mal kann ich mich glasklar erinnern. Julia Buckley. Ich war fünfzehn, sie war vierzehn, wir waren bei ihr, im Keller. Ihre Eltern hatten da so einen orangeroten Wollteppich, und auf dem haben wir’s dann getrieben.« Marshall hielt inne. »Die Sache ist nur, an das zweite Mal kann ich mich schon nicht mehr erinnern. Irgendwie war’s nichts mehr wirklich Neues.«
    Jack fuhr sich mit der Zunge zwischen Zähnen und Lippen entlang, rutschte auf seinem Sitz hin und her. »Ich kann mich an das zweite Mal erinnern.«
    »An das zweite Mal Ficken oder an das zweite Mal, wo du einen umgelegt hast?«
    »Beides.«
    »Oh.« Marshall starrte aus dem Fenster und sprach langsam weiter. »Ist dir schon mal

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