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Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sarkey
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Outfit für das Vorstellungsgespräch auszusuchen.« Sie nahm ihren Becher in die Hand und marschierte voraus ins Schlafzimmer. Anna ließ sich aufs Bett fallen, während Sara im begehbaren Schrank verschwand.
    »Wie läuft’s mit Tom?«, fragte die unsichtbare Sara.
    »Ganz gut. Ist halt nicht leicht.« Anna spielte mit den Fransen der Tagesdecke. »Wir sind schon so lange zusammen, und wir lieben uns wirklich, aber manchmal kommt mir die Ehe einfach wie wahnsinnig viel Arbeit vor.«
    »Genau aus diesem Grund, meine Liebste, befolge ich eine strikte Sechs-Monats-Regel, was meine Beziehungen angeht.«
    Anna lachte. »Es ist schon komisch. Je länger man einen Menschen liebt, desto schwieriger ist es, auszudrücken, warum man ihn eigentlich liebt.« Sie blickte auf, als Sara aus dem Schrank trat, in der Hand ein knallrotes Kleid mit tiefem Ausschnitt. »Nein.«
    »Nein?«
    »Außer du willst dich als Sekretärin mit Zusatzqualifikationen bewerben.«
    »Tja, wenn ich einen Chef finden würde, der aussieht wie George Clooney …« Und schon war sie wieder verschwunden. »Was meinst du damit, ›schwierig auszudrücken‹?«
    »Man … man gewöhnt sich einfach so sehr an den Gedanken, dass man einander liebt, dass man manchmal vergisst, es auch wirklich zu tun.« Anna beugte sich vor, um ein Foto auf dem Nachtkästchen zu betrachten: Sara mit drei Freundinnen in einer Bar, wie sie den Kopf zurückwarf und aus vollem Halse lachte.
    »Darf ich dich was fragen?«, drang ihre Stimme aus dem Schrank.
    »Klar.«
    »Bist du dir sicher, dass Tom das Baby genauso will wie du?«
    Anna war froh, dass Sara nicht sehen konnte, wie sie zusammenzuckte. »Ich weiß nicht. Wie sehr will er es selbst, und wie sehr tut er es für mich? Da bin ich mir nicht so sicher.«
    »Wie wär’s damit?« Sara steckte einen Arm aus der Tür: ein Nadelstreifen-Kostüm.
    »Langweilig.«
    Sie zog den Arm zurück. »Und, macht dir das Angst?«
    »Soll das ein Witz sein?« Anna zog die Schublade des Nachtkästchens auf, teils aus Nervosität, teils aus Neugier. Lippenbalsam, Taschentücher, ein silberner Vibrator – okay, das hätte ich jetzt nicht sehen müssen –, ein paar Postkarten. »Natürlich macht es mir Angst.«
    »Versteh mich nicht falsch, Tom wäre bestimmt ein toller Vater, aber –«
    »Ich weiß«, sagte Anna, während sie die Postkarten durchblätterte: eine Schwarz-Weiß-Aufnahme eines Flamenco-Tänzers, ein Muster aus Avocados und Orangen, ein Schwarm Vögel im Flug. »Wie gesagt, es macht mir Angst. Aber ehrlich gesagt glaube ich nicht, dass es wirklich ein Problem wäre. Hast du ihn schon mal mit Kindern erlebt? Er ist total –« Sie wollte gerade die Karten zurücklegen, als ihr Unterkiefer nach unten klappte.
    »Total was?«
    »Du hast eine Waffe?«
    »Wie bitte?«
    Das Ding hatte unter den Postkarten gelegen – ein kompakter Revolver, wie ihn Cops in alten Filmen benutzten. Anna starrte ihn an, wollte ihn berühren und schreckte zugleich davor zurück.
    Ihre Schwester trat aus dem Schrank, mit einer weißen Bluse in der Hand. Sie wirkte schuldbewusst – und wurde aggressiv, um es zu überspielen. »Schnüffelst du öfter in anderer Leute Sachen rum?«
    »Warum hast du eine Waffe?«
    Sara zuckte die Achseln. »Hab ich von einem befreundeten Cop bekommen, als ich in die Stadt gezogen bin. Er meinte, eine Frau ganz allein … Du weißt schon …«
    »Ein befreundeter Cop?«
    »Na gut, ich war mit ihm zusammen.«
    »Und du hast die Waffe behalten?«
    »Damals fand ich es irgendwie romantisch. Und als wir uns dann getrennt haben, wusste ich nicht, was ich damit anstellen soll.«
    »Und was ist mit Julian?«
    »Der ist noch ein bisschen zu klein, um in Schubladen rumzuwühlen.«
    »Hast du den Verstand verloren?« Fassungslos blickte Anna ihre Schwester an. Sie merkte, wie sich ihr Gesicht verzerrte. »Wie viele Eltern sagen genau dasselbe, bevor ihr Kind einen Unfall hat!?«
    »Jetzt übertreibst du’s aber.«
    Anna fixierte sie weiter und zog die Augenbrauen hoch.
    Schließlich rollte Sara mit den Augen. »Na gut. Ich entsorge das Ding.«
    »Danke.«
    »Ich meine, da kommt er doch wirklich nicht dran –«
    »Sara.«
    »Schon gut, schon gut.« Sie hielt die Bluse hoch. »Was hältst du davon?«
    Anna schüttelte den Kopf, legte die Postkarten wieder auf den Revolver, schloss die Schublade und seufzte. »Mit dem grauen Rock.«
    »Dem kurzen?«
    »Dem langen.«
    Sara warf die Bluse aufs Bett.

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