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Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sarkey
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und straffte die Schultern.
     
    Fünf vor zehn. Jack verschränkte die Finger und streckte die Arme in die Höhe, bis die Knöchel knackten. Die Bewegung zerrte an dem Schnitt in seinem Unterarm und er zuckte zusammen. Zwar hatte er die Wunde gesäubert und verbunden, zwar wusste er, dass sie nicht tief genug war, um mehr als eine heftige Narbe zu hinterlassen, aber dennoch brannte das Teil wie die Hölle persönlich.
    Er rückte den Verband sorgfältig zurecht und lehnte sich an die Sichtbetonwand des Parkdecks. Gestern Abend hatten sie drei Stunden damit verbracht, jeden Quadratzentimeter der Mall und ihrer Umgebung abzuschreiten. Es war ein guter Ort: Fluchtwege im Überfluss, Treppen an drei Ecken, die allesamt mit dem Parkdeck verbunden waren, dazu der Lebensmittelladen im Untergeschoss und die Laderampen an der Rückseite. Außerdem waren die Sicherheitsvorkehrungen der reinste Witz. Jack zog den Reißverschluss seines Navy-Overalls auf und tastete nach der Pistole, die er sich übers T-Shirt geschnallt hatte. Er mochte den Geruch des Regens, selbst wenn er von den Abgasen und dem Ölgestank der Autos überlagert wurde.
    Das Handy an seinem Gürtel vibrierte ein einziges Mal. Jack klappte es auf und las die Nachricht von Marshall:
    Sie sind da.
    Er atmete tief ein, bevor er sich durch die Lücke im Maschendrahtzaun schob, die nächste Ecke umrundete und in eine große, dreckige Betonhalle trat, an deren Seite sich die Verladerampe entlangzog. Es roch nach Müll. Ein Typ, der gerade einen Lieferwagen entlud, blickte herüber, und Jack salutierte schmissig. Der Mann nickte und machte sich wieder an die Arbeit. Als Jack die Tür zur Mall öffnete, spürte er endlich die alte Enge in der Brust – er war zu Hause.
     
    Annas Haut spannte sich über ihrem Gesicht, als wollte sie zerreißen. Überall um sie herum kauften die Leute ein, aßen und plauderten, als ob alles ganz normal wäre. Unten saßen zwei Männer an einem Tisch und lachten. Ein Grüppchen Friseurinnen aus dem nahen Salon verschwand im Victoria’s Secret. Mit ihren schwarzen Klamotten und aufgestellten Ponys sprangen sie sofort ins Auge – warum hatten Friseurinnen eigentlich immer die schlimmsten Frisuren? Eine Frau schob einen Kinderwagen vor sich her, der kleine Junge darin bestaunte die Welt mit verblüfftem Gesicht, als wäre alles eine unglaubliche Show.
    Gestern Abend hatte der Plan noch wie eine gute Idee gewirkt, wie eine saubere, einfache Lösung. Da war er auch bloß ein Gedankenexperiment gewesen, ein Schachzug, über den sie nachdachten, als ginge es nur darum, ein Spiel zu gewinnen. Aber jetzt, hier in der Mall, waren die vernünftigen Überlegungen verschwunden, jetzt gab es nur noch Furcht und Panik und eine kindliche, verzweifelte Angst vor Bestrafung.
    Ein muskulöser Mann in einem Trikot der Chicago Cubs tauchte hinter der Ecke zu ihrer Rechten auf. Er bewegte sich schnell, mit langen, raschen Schritten, aber ohne zu rennen. Seine Augen waren auf sie geheftet.
    »Tom.« Sie stieß ihn an. Tom drehte sich um und folgte ihrem Blick. Seine Hände verkrampften sich um die Henkel der Tasche.
    Der Mann kam weiter auf sie zu, blickte sie weiter an. Er hatte kurzgeschnittenes Haar und breite Schultern. Anna musste daran denken, wie Tom gestern gemeint hatte, dass Jack vielleicht nicht persönlich erscheinen würde. Jetzt war der Mann noch zehn Meter entfernt. Sechs Meter. Sie hörte die Singsangstimme einer Frau. »Macht dir das Spaß, mein Kleiner?« Es war die Frau mit dem Kinderwagen, die sich aus der anderen Richtung näherte, während der Mann im Trikot beschleunigte und eine Hand zur Hüfte führte.
    »Tom.« Annas Stimme brach. Tom trat einen Schritt vor, stellte sich halb vor sie.
    Die Finger des Mannes verschwanden unter dem Trikot.
    »Gehst du etwa nicht gern mit Mami einkaufen?«
    Drei Meter.
    Anna wollte schreien, wollte wegrennen, aber sie konnte sich nicht bewegen. Sie musste zusehen, wie der Mann das Trikot nach oben schob und darunterfasste, wie er nach irgendetwas griff. Panik bohrte sich in ihre Schläfen, Panik lähmte ihre Hände. Mein Gott, alles ging schief, dieser Typ würde sie einfach erschießen, gleich hier, mitten in der Mall, direkt vor dieser Frau mit ihrem Kind, die sich sicher fühlte, die noch daran glaubte, dass die Welt unumstößlichen Regeln folgte, denselben Regeln, an die Anna einst geglaubt hatte.
    Die Hand tauchte wieder auf. Mit einem Handy zwischen den Fingern.
    »Nein, nichts Besonderes. Nur

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