Im Augenblick der Angst
Sporttasche schlug immer wieder gegen seine Knie; trotzdem war er dankbar, dass er sich an irgendetwas festhalten konnte. Drinnen verschwand das Plätschern des Regens und das Knirschen der Reifen, um von leiser Popmusik und einem Wirrwarr künstlicher Gerüche aus dem Seifenladen nebenan ersetzt zu werden. Die Dame hinter dem Infostand blickte gar nicht erst von ihrem Roman auf, als sie an ihr vorbeieilten.
Die Century Mall war eine quadratische Spirale, die sich über vier Stockwerke um ein zentrales Atrium herum in die Höhe schlängelte. Bei ihrem Anblick musste Tom immer ans Guggenheim-Museum denken, nur dass keine Gemälde, sondern zwei Dutzend Geschäfte auf den Besucher warteten: Klamotten, Haarentfernung per Laser, Unterwäsche, ein Sonnenstudio. Rundherum führte eine breite Rampe hinauf, und von seinem jetzigen Standpunkt aus konnte Tom den gesamten Querschnitt des Kapitalismus betrachten, bis hoch zur breiten Glasdecke, auf die noch immer die Regentropfen prasselten. Genau in der Mitte des Untergeschosses befand sich ein Delikatessengeschäft, einer dieser Läden, die abgepacktes Sushi und raffinierte Salate verkauften. »Was denkst du, wo gehen wir am besten hin?«, fragte er.
»Am Schluss sollten wir im zweiten Stock landen, damit Malachis Leute nicht so weit weg sind, egal wo sie warten.«
»Das heißt, wir können nicht im zweiten Stock anfangen. Also ganz nach oben?«
Kurz darauf warteten sie vor dem gläsernen Fahrstuhl. Tom wippte auf den Zehen vor und zurück und schaute sich pausenlos um, während er versuchte, nicht nervös zu wirken. Da erstarrte Anna, neigte sich beiläufig zu ihm und flüsterte: »Da drüben ist ein Cop.«
Tom spähte möglichst beiläufig hinüber. Der Polizist lehnte am Geländer über dem Delikatessenladen und spähte hinab auf das importierte Fleisch und den exklusiven Kartoffelsalat in der Kühltheke. Er wirkte ruhig und gelassen, zwischen den Fingern drehte er eine frische Zigarette.
»Scheiße«, sagte Tom. »Mit einem Wachmann hatte ich gerechnet, aber nicht mit einem Cop. Wenn Jack den entdeckt, könnte alles den Bach runtergehen.« Er presste die Lippen aufeinander. »Aber wir können nichts tun.«
Mit einem Klingeln öffneten sich die Türen des Fahrstuhls, und sie traten ein. Tom drückte auf die Vier, drehte sich um und schaute aus der verglasten Rückwand. Es war immer noch früher Vormittag, und er fragte sich, wer all diese Leute waren, die jetzt durchs Einkaufszentrum schlenderten. Hatten die alle keinen Job? Die kupferfarbenen Türen schlossen sich, der Lift fuhr gemächlich nach oben. Tom hielt den Blick auf den Cop gerichtet – anscheinend hatte die Bewegung des Fahrstuhls den Gesetzeshüter aufgeschreckt, denn er sah auf, und für einen Moment trafen sich seine und Toms Augen. Dann wandte sich der Cop ab und spazierte aus dem Sichtfeld.
Als die Türen aufglitten, stieg Tom sofort der Popcorngeruch in die Nase. Obwohl die Klimaanlage für eisige Temperaturen sorgte, war sein Hemd unter den Achseln nassgeschwitzt. Sie schlenderten nach links, weg vom Eingang des Kinos, in eine ruhige Ecke. Anna stützte sich auf das Geländer und blickte hinab. »Kein Wunder, dass er sich hier treffen wollte. Man kann wirklich alles im Blick behalten. Wenn wir die Polizei mitgebracht hätten, hätte er es wahrscheinlich sofort bemerkt.«
»Dann hoffen wir mal, dass Malachis Leute unauffälliger vorgehen.«
»Wie man’s nimmt.« Anna deutete mit dem Kopf nach unten. »Da drüben, eine Etage tiefer. Der Kofferladen.«
Tom äugte hinunter – und entdeckte Andre, wie er in dem Laden stand und so tat, als würde er sich für ein Set aufeinander abgestimmter Koffer interessieren. Jetzt nickte er unmerklich.
»Ach du großer Gott.« Toms Magen rumorte. Rational konnte er die Vorteile eines Treffens in der Öffentlichkeit nachvollziehen. Er wusste, dass die Leute um sie herum für ihre Sicherheit sorgen sollten – und trotzdem fühlte er sich in der Leere zwischen all diesen Läden völlig schutzlos. Was hatten sie hier eigentlich vor? Einen Killer an eine Bande Drogendealer ausliefern, eine Tasche voller Zeitungen auf gut Glück als Vermögen ausgeben, während unten ein Cop seine Runden drehte und Jack hinter jeder Ecke auftauchen konnte?
Ruhig. Ganz ruhig. Zieh das einfach durch. Zieh das durch und bring deine Frau da heil wieder raus.
Toms Uhr zeigte fünf vor zehn an. In einer Viertelstunde würden sie entweder frei sein – oder tot. Er atmete tief ein
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