Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sarkey
Vom Netzwerk:
traten ein und zogen die Tür hinter sich zu, bevor Tom die Tasche öffnete und ausleerte. Bündel zerknitterter Hunderter landeten auf dem Boden, und Anna überkam dasselbe surreale Gefühl wie damals, als sie das Geld gefunden hatten, ihr Herzschlag legte denselben atemlosen Aussetzer hin. So viel Freiheit in einem Haufen auf dem Betonboden. In der engen Kammer konnte sie das Geld riechen, ein abgestandener, unangenehmer Geruch nach Menschheit.
    Tom schüttelte die letzten Bündel heraus, stellte die Tasche auf den Boden und hielt sie auf, damit Anna den Stapel Zeitungen hineinpacken konnte. Die Seiten beulten sich aus wie zuvor. Tom hob die Tasche an und wog sie in der Hand. »Kein großer Unterschied.«
    Danach riss Anna die Banderole von einem Geldbündel, legte die Scheine oben auf die Zeitungen und verteilte sie mit der Hand. Auf den ersten Blick – einem sehr oberflächlichen Blick – konnte man meinen, sie hätten die ganzen Bündel aufgerissen und das Geld lose in der Tasche verstaut. Eine heikle Strategie, aber besser als nichts.
    Als sie aufblickte, sah Anna, dass Tom sie anstarrte. Er lächelte leicht, nur mit einem Mundwinkel. Ein Schweißtropfen hatte sich auf seiner Oberlippe gebildet. Plötzlich beugte er sich vor, legte eine Hand hinter ihren Kopf und küsste sie, und sie drückte sich an ihn, ließ ihre Zunge in seinen Mund gleiten und spürte seine Bartstoppeln an ihrer Haut, während sie sich über einem Berg Geld abknutschten wie zwei Highschool-Schüler. Als sich ihre Lippen endlich voneinander lösten, strich sie ihm lächelnd über die Wange. »Wie komme ich zu der Ehre?«
    »Das bringt Glück«, sagte er, »und als Dank.«
    »Dank?«
    »Nicht jeder kann auf einen Komplizen wie dich zählen.«
    »Wir schlagen uns eigentlich nicht schlecht, oder? Ich meine, für ganz normale Leute?« Anna fühlte ihren Puls in den Schläfen. Für eine kurze Sekunde blitzte die Erkenntnis in ihr auf, was sie da eigentlich vorhatten, was für ein Wahnsinn das war – wie auf der Achterbahn, wenn man auf den Abgrund zusteuert und weiß: Es ist viel zu spät, um noch auszusteigen.
    »Es wird klappen«, sagte Tom. »Ich verspreche es dir.«
    Sie lächelte bemüht. »Schwörst du’s auch?«
     
    Dank des Duftbaums am Rückspiegel stank es im ganzen Taxi nach Apfel. Tom rümpfte die Nase und sah zu, wie die Häuserreihen an ihnen vorbeikrochen. Anna hatte vorgeschlagen, den Pontiac etwas abseits zu parken und mit dem Taxi zur Mall zu fahren. Eine gute Idee.
    Er dachte an den Kuss vor ein paar Minuten, als er in dem engen Lagerraum auf einem Haufen Scheine kniete und ihren Mund schmeckte, an den Anflug von Verzweiflung, den sie beide nicht zur Kenntnis nehmen wollten. Tom blickte zu ihr hinüber, drückte ihre Hand, erhielt ein dünnlippiges Lächeln als Antwort.
    Mittlerweile hatte es angefangen zu regnen, dicke, gemütliche Tropfen, die alle Farben auffraßen, bis die Straße zu einem Gemisch aus Grautönen verkam. Die Leute drückten sich unter ihre Regenschirme, die Ladenbesitzer flüchteten sich unter ihre Markisen, hoben die Nasen in die Luft und schnupperten, während das Taxi an einem Elektro-Discounter vorbeifuhr, einem Teppichmarkt, ein paar trendigen Boutiquen, einem Falafelstand. Eine vergiftete Leichtigkeit hatte sich in Toms Brust breitgemacht. Einmal, im College, war er Fallschirmspringen gegangen; vor allem erinnerte er sich an die Panik, als sich das Flugzeug immer höher schraubte, an ein Gefühl wie ein statisches Rauschen, als würde er sich etwas Unausweichlichem, Endgültigem nähern.
    Der Fahrer stoppte am Straßenrand und tippte mit dem Finger aufs Taxameter. Die Scheibenwischer glitschten weiter von links nach rechts und wieder zurück. Draußen, auf der gesamten Breite der Straße, türmte sich die graue Masse der Century Mall auf. Barocke Säulen erhoben sich über der Leuchtschrift mit den aktuellen Kinofilmen, darunter glitzerten Schaufenster und Glastüren. Tom reichte dem Fahrer einen Zwanziger und meinte, er solle den Rest behalten. Sie würden alles an gutem Karma brauchen, das sie kriegen konnten.
    »Ich weiß, was du sagen wirst, aber bitte, denk nochmal drüber nach, mich das allein erledigen zu –«, fing Tom an.
    »Wir stehen das gemeinsam durch.« Annas Gesicht wirkte blass, aber sie hob entschlossen das Kinn. »Bringen wir’s hinter uns.«
    Tom nickte und atmete langsam aus. Gemeinsam gingen sie zum Eingang, Anna vorneweg, um die Tür zu öffnen. Die unhandliche

Weitere Kostenlose Bücher