Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sakey
Vom Netzwerk:
sich erhob und mit Andre das Lokal verließ. Denn als Andre den Reißverschluss seiner Jacke öffnete, hatte Tom etwas gesehen: ein Schulterhalfter mit einer großen schwarzen Pistole.
     
    Tom schaffte es nicht in die Sitzung.
    Wegen des Verkehrs dauerte es fast eine halbe Stunde, bis ihn das Taxi endlich vor seiner Haustür ablieferte. Eine halbe Stunde lang hatte er aus dem Fenster gestarrt und die Visitenkarte in den Fingern gedreht. Die Karte war so schlicht wie elegant: schwerer Karton, cremefarben mit starker Textur, eine aufgeprägte Telefonnummer – und kein Name. Eine halbe Stunde lang hatte Tom an diese Pistole gedacht. Zu Hause ging er gar nicht erst nach oben, um seine Tasche abzustellen, sondern stieß gleich die Tür zur unteren Wohnung auf und machte sich an die Arbeit.
    Am liebsten hätte er alles auf den Kopf gestellt. Am liebsten hätte er die Schränke ausgeleert und umgerissen, die Bücher vom Regal gewischt, die Wände und Schubladen nach Hohlräumen abgeklopft. Aber wenn es aussah, als hätte ein Tornado in den Zimmern gewütet, würde Anna denken, dass schon wieder eingebrochen worden war. Dann müsste er ihr von Andre erzählen, der gewirkt hatte, als würde er nur darauf warten, dass Tom einen Fehler machte, und von dem Drogendealer, der Annas Namen kannte. Die Erinnerung trieb ihm die Galle in den Mund. Tom war kein gewalttätiger Typ, aber wenn er eine Pistole gehabt hätte, nein, irgendeine Waffe, ein Baseballschläger hätte es auch getan, dann –
    Dann wärst du jetzt tot, sonst gar nichts. Du arbeitest in der anständigen amerikanischen Geschäftswelt. Diese Typen verkaufen Drogen. Was denkst du, wie stehen deine Chancen?
    Er drehte sich um und trat mit voller Wucht gegen den abgenutzten Sessel. Der Stoß ließ sein ganzes Bein beben, aber der Sessel kippelte nur ein wenig hin und her, verharrte auf der Kante und fiel schließlich in seine Ausgangsposition zurück. Tom trat noch einmal zu, und noch einmal, bis er schließlich die Lehne packte und zur Seite riss. Langsam neigte sich der Sessel, balancierte einen Moment lang auf der Kante – und stürzte um.
    Für eine Sekunde stellte Tom sich vor, wie die Polster aufplatzten und unzählige Tütchen Kokain ausspien. Doch der Sessel krachte nur mit einem satten Poltern auf den Boden, wirbelte eine Staubwolke auf und legte einige Zigarettenstummel sowie einen Fleck dreckigen Holzboden frei. Tom seufzte und ließ sich auf den Rand der Sitzfläche sinken, rieb sich die Stirn und schloss die Augen.
    Bis er wieder aufstand und loslegte.
     
    Marshall lehnte an einem Baum, die Hände in den Hosentaschen. Eine Frau schob einen Kinderwagen den Gehsteig entlang, sie lächelten einander zu. Er begutachtete ihre Figur, bevor er seine Aufmerksamkeit wieder dem zweistöckigen Ziegelbau zuwandte. Da die Sonne schräg auf die Fenster fiel, konnte er kaum Details ausmachen. Aber die Silhouette des Mannes erkannte er.
    Gelangweilt zog Marshall eine Zigarettenschachtel aus der Tasche und schüttelte eine heraus. Vor neun Jahren, als er beschlossen hatte, mit dem Rauchen aufzuhören, hatte er sich krampfhaft von Kippen und Rauchern ferngehalten. Er hatte im Bioladen eingekauft, weil es dort keine Zigaretten gab, und war nicht mehr in Bars gegangen. Bis er eines Abends begriffen hatte: So besiegte er die Sucht nicht. So hatten die Kippen gewonnen.
    Seitdem hatte er immer eine Schachtel dabei. Er würde es den Scheißdingern zeigen.
    Marshall hielt sich die Zigarette unter die Nase und sog den Duft des Tabaks ein. Eigentlich hatte er im Auto bleiben wollen, aber nachdem Tom Reed mitten am Tag nach Hause gekommen und dann auch noch sofort in Wills Wohnung verschwunden war, hatte er einen Blick gewagt. Er dachte gerade darüber nach, wie riskant es wohl wäre, ein bisschen näher heranzugehen, als ein dumpfes Poltern aus dem Haus drang – als wäre irgendetwas aus großer Höhe heruntergefallen.
    Was soll’s. Marshall steckte sich die Kippe hinters Ohr und ging los. Ohne Zögern bog er in den schmalen Pfad ein, der zwischen dem Haus der Reeds und dem Nachbargebäude verlief. Sein Gesicht war starr nach vorn gewandt, aber seine Augen ruhten auf den Fenstern. Wegen der Sonne konnte er nur Umrisse erkennen, doch eins war sicher: Tom Reed kehrte der Welt den Rücken zu.
    Vorsichtig lehnte Marshall sich gegen die Fensterscheibe und schirmte den Blick mit einer Hand ab, damit er klare Sicht aufs Innere hatte. Der Sessel lag auf der Seite, dahinter kniete Tom

Weitere Kostenlose Bücher