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Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sakey
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Shore Drive war der Himmel der Hippen und Trendigen. Anna stand auf den Stil der Innenausstattung, auf die Sessel im Mod-Design und die gedeckten Farben, auf den Trip-Hop, der die Gäste in der Lobby berieselte. Hier fühlte sie sich cooler, als sie in Wirklichkeit war.
    Die Dame hinter der Rezeption fragte nach ihrem Namen, und Anna antwortete wahrheitsgemäß, bevor sie hinzufügte: »Ich zahle mit Kreditkarte. Aber könnten Sie das Zimmer unter einem anderen Namen buchen? Mein Exmann …« Sie verstummte und warf der Rezeptionistin einen bedeutungsschwangeren Blick zu.
    »Verstehe«, antwortete die Dame. »Kein Problem. Welchen Namen hätten Sie denn gern?«
    »Äh … Anna Karenina?«
    »Sicher? Die hatte auch nicht besonders viel Glück mit der Liebe.«
    »Da haben Sie Recht.«
    »Wie wär’s mit Annie Oakley? Dann können Sie ihn einfach erschießen, wenn er doch noch auftaucht, und danach in den Sonnenuntergang reiten.«
    Anna lachte. »Gute Idee.«
    Das Zimmer wirkte riesig mit seinen spiegelglatten Flächen und asiatisch anmutenden Lampen. Hinter den breiten Fenstern glänzte der See mit dem Navy Pier, das Riesenrad leuchtete hell vor dem dunkelblauen Himmel. Am liebsten hätte Anna sich sofort die Klamotten vom Leib gerissen und Champagner geordert.
    Tom stellte die Sporttasche ab und ließ sich rückwärts in den nächsten Polstersessel fallen. Sein Gesicht wirkte angespannt, seine Lippen verkniffen. Den linken Ellbogen hatte er auf die Seitenlehne des Sessels gestützt, so dass die geschwollene, blutverkrustete Hand über seinem Kopf schwebte.
    »Wie geht’s?«, fragte Anna.
    »Es tut weh«, antwortete er und schwieg. Tom war nicht der Typ, der sich groß beklagte. Regelmäßig trieb er sie in den Wahnsinn, weil er sich standhaft weigerte, zum Arzt zu gehen, auch wenn er noch so krank war. Was soll der Herr Doktor denn mit mir anstellen? , sagte er immer. Bis ich einen Termin habe, geht’s mir eh schon wieder besser.
    Anna setzte sich auf den Bettrand. Schlagartig war die Nervosität wieder da – sie wusste nicht, wie sie mit ihm reden, was sie sagen sollte. »Soll ich es verbinden?«
    »Lass mich erst ein bisschen was trinken und ein paar Pillen einwerfen.«
    Auf dem Weg hatten sie eine Flasche Bourbon gekauft, neben Klebeband, Mullbinden, antiseptischer Salbe, antibakterieller Seife, Schmerztabletten und einer Handschiene. Anna schüttelte ein paar Pillen aus der Dose und reichte sie Tom, ehe sie die Whiskeyflasche aus der Tasche zog. Natürlich wusste sie, dass man keinen Alkohol trinken sollte, wenn man Ibuprofen einnahm, aber angesichts ihrer momentanen Probleme kamen ihr solche Bedenken nur noch lachhaft vor. Also goss sie in jedes der zwei Gläser auf dem Nachttisch einige Zentimeter. Tom nahm das Glas wortlos entgegen und blickte aus dem Fenster.
    »Es tut mir leid, Tom.«
    Er nickte und sah weiter aus dem Fenster.
    »Ich war dumm. Ich hätte dir vertrauen sollen. Das heißt, ich vertraue dir ja. Ich war einfach nur … dumm.«
    Tom nippte an seinem Drink und zuckte die Achseln. »Ist jetzt auch egal.«
    »Mir aber nicht.«
    »Ach ja?«
    »Ja.«
    »Na gut. Willst du wissen, welcher Moment am schlimmsten war?« Er drehte sich um und schleuderte ihr einen undurchschaubaren Blick entgegen. »Nicht als ich festgestellt habe, dass das Geld weg war. Nicht als er meine Finger zertreten hat. Sondern danach. Ich konnte einfach nicht glauben, dass du das Geld genommen hast. Jack hatte es mir ja gesagt, aber ich hab mich geweigert, es zu glauben. Bis ich dir in die Augen geblickt und begriffen habe, dass er dich besser kennt als ich.«
    »Das ist nicht wahr.«
    Tom zog eine Augenbraue hoch und trank noch einen Schluck.
    »Und was ist mit dir?« Anna wusste, dass sie auf einem emotionalen Drahtseil balancierte – auf der einen Seite der pure Selbsthass, auf der anderen selbstgerechte Wut. »Woher weißt du seinen Namen? Was hast du hinter meinem Rücken getan?«
    »Versucht, unser Leben zu retten.« Seine Stimme war ruhig statt aggressiv, und Anna stand gleich etwas sicherer auf ihrem Drahtseil.
    »Was willst du damit sagen?«
    »Jack ist nicht unser einziges Problem.« Tom leerte sein Glas und streckte sich nach der Flasche, aber Anna kam ihm zuvor und schenkte ihm nach. Als sie fertig war, blitzte ein kurzes Lächeln auf seinem Gesicht auf – nichts Großes, nur ein kleines Danke , wahrscheinlich aus Gewohnheit oder Höflichkeit, aber immerhin. »Es ist noch jemand hinter uns

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