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Im Augenblick der Angst

Im Augenblick der Angst

Titel: Im Augenblick der Angst Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marcus Sakey
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unmittelbaren Gefahr war wie eine Pause zwischen zwei Wellenbergen. Tom hatte sich gegen das Grauen gestemmt, hatte mit aller Kraft dagegen angekämpft, und jetzt, als es mit einem Mal verschwunden war, verlor er fast das Gleichgewicht. Er zog den Arm aus dem Schacht, seine Schulter knackte leise. Und dann stand er einfach nur da, auf dem Tisch, den er gemeinsam mit Anna auf dem Flohmarkt gekauft hatte, und starrte hinunter in die Küche. Nichts hatte sich verändert, und doch hatte er den Raum noch nie aus einem so bizarren, bedrohlichen Blickwinkel gesehen.
    »Bist du in Ordnung?« Anna blickte mit weit aufgerissenen Augen zu ihm hinauf. Sie schien nicht zu wissen, was sie mit ihren Armen anstellen sollte – erst streckte sie sie nach ihm aus, dann hielt sie inne und verschränkte sie fast vor der Brust, um sie schließlich ungelenk hängen zu lassen.
    Tom antwortete nicht, sondern ließ sich wortlos in die Knie sinken. Seine linke Hand pulsierte warnend, so dass er rechtzeitig daran dachte, lieber die andere Hand zu benutzen. Er nahm den Schraubenzieher zwischen die Zähne, ergriff die Abdeckung mit der Rechten und stand vorsichtig wieder auf, während er gegen den Schwindel kämpfte. Es war gar nicht so leicht, die Abdeckung einhändig auszurichten. Das Abmontieren war kein Problem gewesen, aber die Sache zu reparieren, stellte sich als weitaus schwieriger heraus. Wie immer.
    »Tom?«
    Endlich war es ihm gelungen, die Abdeckung in die Öffnung einzupassen. Die Kante der Trockenmauer stabilisierte sie einigermaßen, so dass er loslassen, eine Schraube aus der Tasche holen und vorsichtig ins erste Loch einführen konnte. Der Griff des Schraubenziehers war glitschig vom Schweiß. Tom setzte ihn an und begann zu drehen, immer schön rechts herum.
    »Tom, lass das doch jetzt. Wir müssen nachdenken. Die Polizei ist jeden Moment hier.«
    Noch ein Dutzend Drehungen, und die Schraube war versenkt. Er nahm die nächste aus der Tasche und machte sich an die Arbeit.
    »Liebling –«
    »Warum hast du das Geld genommen?« Tom blickte weiter auf den Lüftungsschacht, der Tisch wackelte leicht unter seinen Füßen.
    »Das hab ich nicht getan.«
    Tom lachte auf.
    »Ich meine, ich habe es nicht genommen . Ich habe es nur woanders hingebracht.«
    »Warum?«
    »Ich dachte, du würdest damit zur Polizei gehen. Um mich zu beschützen.«
    Er nickte, in erster Linie aus Gewohnheit. Nun, da das Adrenalin verebbte, tat ihm langsam alles weh. Der Schmerz spielte sich ein wie ein Orchester, schräg, schrill und verzerrt. Vorneweg seine linke Hand – heiße, anschwellende Paukenschläge dröhnender Pein. Nicht weit dahinter sein Kopf, ein durchdringendes Kreischen im Takt eines Metronoms. Dazu grollten und rumorten Magen und Rücken, während Hunderte kleiner Nadeln und Kneifzangen seinen Körper traktierten wie kurze, grelle Flötenstöße. Tom biss die Zähne zusammen und widmete sich der Schraube.
    »Tom, wir müssen über die Polizei reden.«
    Eine letzte Drehung, und die Abdeckung hielt. Eine Sekunde lang wollte er nichts lieber, als die Schrauben zu lösen und die Abdeckung abzunehmen, um sie gleich darauf wieder anzumontieren. Und immer so weiter, bis der Tag zu Ende war.
    »Liebling.« Ein gequältes Betteln. »Wir müssen nachdenken.«
    »Du hast mich angelogen.« Tom steckte den Schraubenzieher in die Tasche, ließ sich mühsam auf die Tischkante sinken und trat von dort aus auf den Boden.
    »Ich weiß. Und es tut mir leid. Ich wünschte, ich könnte es rückgängig machen. Ich konnte doch nicht wissen, dass so was passieren würde. Das konnte ich doch wirklich nicht wissen, oder?« Ihre Augen flehten ihn an. »Ich werde dir alles erzählen, ich werde dir alles erklären, alles, was du willst, aber jetzt müssen wir besprechen, was wir der Polizei sagen.«
    Tom wich ihrem Blick aus. »Na, was schon? Die Wahrheit natürlich.«
    »Das können wir nicht.«
    Er schnaubte, fasste den Tisch am Rand und schob ihn einhändig zurück an seinen Platz.
    »Tom, hör mir zu. Bitte, hör mir doch –« Sie packte den Tisch an der anderen Seite und riss daran. »Lass das doch mal!«
    Er hielt dagegen und zog fester als Anna, aber sie gab nicht nach. Der Tisch hob vom Boden ab und ruckte hin und her. Tom starrte sie wütend an, sie starrte zurück. Alles drängte an die Oberfläche – die Lügen, der Druck, die unmerklichen tektonischen Verschiebungen in ihrer Beziehung, alles verschaffte sich Luft in einem Kleinkrieg um einen simplen

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