Im Bann der Drudel (Auf der Suche nach dem magischen Buch) (German Edition)
entfernten Ende entgegen setzten, geriet die Brücke mehr und mehr ins Schwanken und mehr als einmal mussten die drei abrupt stehenbleiben, weil wieder eines der spröden Bretter unter dem Druck von Timothys Füßen zerbarst und ihn fast mit in die Tiefe riss.
Eine schier endlose Weile später spürte Timothy schließlich das feste Gestein der anderen Seite unter seinen Füßen und atmete erleichtert auf. Loo trat einen Atemzug nach ihm auf die Felsplatte, zog sich schnell dreimal am Ziegenbart und reichte Avy die Hand, die es ihm mit einem verwunderten Lächeln dankte.
Sie fanden sich auf einem breiten Plateau, direkt unterhalb einer der Wehrtürme, wieder, von dem aus verschiedene Wege und ausgetretene Treppen in die steinerne Festung führten. Bei genauerem Hinsehen bemerkte Timothy, dass das, was er aus der Ferne gesehen hatte, mitnichten Schießscharten waren, sondern kreisrunde Scheiben mit einem kleinen Knauf in der Mitte, die in jede Mauer, in jede halbwegs gerade Wand und sogar in Teile des Bodens eingelassen waren. Die meisten davon waren allerdings von der unnachgiebigen Flechte überzogen, die auch hier keinen Halt vor der Überwucherung gemacht hatten.
»Das also sind die Schubladen«, flüsterte Timothy überwältigt, als er begriff. »Das müssen ja Tausende sein. Wo fangen wir nur an?«
»Irgendwo!«, sagte Avy achselzuckend und zog an einem Knauf.
Loo stellte sich neugierig auf die Zehenspitzen, um einen Blick hineinwerfen zu können.
»Kein Fluch – absolut leer«, stellte er mit gewisser Erleichterung fest, zog jedoch mit schweißnasser Hand an einer anderen, die sich mit einem schabenden Geräusch öffnete. Verdutzt sahen die drei auf feine, milchige Fäden, die sich durch die gesamte röhrenförmige Lade versponnen hatten.
»Ich schätze, hier wohnt nur eine Spinne«, stellte Loo mit angewidertem Gesichtsausdruck fest. »Pfui! Ich hasse Spinnen! Möchte nicht wissen, wie groß diese hier sein muss. Brrr!« Loo schüttelte sich und schob die Röhre gerade wieder mit spitzen Fingern zu, da hörten sie ein Hüsteln. Es kam eindeutig aus der Schublade.
»Warte!«, rief Timothy, riss ruckartig ein Stück der Fulgerflechte ab und beleuchtete damit die Fäden.
»Die Fäden bewegen sich!«, rief Loo entgeistert. »Timothy, mach sie sofort zu! Wenn die Spinne –«
Timothy winkte ärgerlich ab. »Pssst! Hört doch mal!«
Wieder ertönte das Räuspern.
»H-chm. H-chchm – Ich bin hocherfreut, die folgende bahnbrechende Erkenntnis hier für die nächsten Generationen archivieren zu können«, erklang es aus der Röhre, wobei die Fäden begonnen hatten, sich in Höchstgeschwindigkeit zu verweben und dabei immer neue Netze und Muster zu bilden. »H-h-chm …«, fuhr die unbekannte Stimme fort. »Nach vielen Jahren quälender Darmwinden bin ich endlich auf ein Heilmittel gestoßen, das auch bei übermäßigem Genuss von Met wahre Wunder vollbringt. Aniswurzel mit – H-chm – Aniswurzel mit Johanneskraut H-chm H-chm … Nebenwirkung Heiserkeit, Kratzen im Hals H-chm…« Plötzlich endete der Gedanke, der in der Schublade abgelegt wurde, und die Fäden fielen in sich zusammen.
»Wer zum Teufel hat das gesagt?«, fragte Timothy und suchte mit der Fulgerflechte die Schublade ab. »Hier ist nichts, noch nicht mal eine Spinne!«
»Ich glaube, das sind keine Spinnweben, sondern Gedankenfäden«, raunte Avy ihm zu. »Unser Lehrer für Hexenkunde hat mal erwähnt, dass wir deswegen nur noch wenig über Hexen wissen, weil sie nie etwas niedergeschrieben haben. Sie haben wohl all ihr Wissen als Gedanken abgelegt. Frag mich nicht, wie das genau funktioniert hat.«
»Das würde zumindest erklären, warum sie diesen Ort so gut geschützt haben«, überlegte Timothy laut und zog mit erwartungsvollem Prickeln im Bauch die nächste Schublade auf.
»Und ich sage: Nieder mit dem Menschen!«, kreischte es ihnen prompt entgegen. »Wir werden uns von diesen abartigen Kreaturen befreien! Jeder dieser widernatürlichen –«
Erschrocken stieß Timothy die Lade wieder zu und erstickte damit das Gekeife im Keim. »Puh … der war nicht besonders nett, was? Avy, du bist dran!«
Aber auch die nächsten Gedankenfächer beherbergten entweder keinen oder oft einen wenig brauchbaren Inhalt, so dass die Freunde nach und nach mutiger wurden und schließlich mehrere Schubladen zugleich aufzogen, was natürlich in einem heillosen Stimmenwirrwarr endete.
»Mein Weib treibt mich in den Wahnsinn!«, wütete ein tiefer Bass.
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