Im Bann der Dunkelheit
die einen Großteil der Verantwortung für das trugen, was in Wyvern schiefgegangen war. Und wenn das, was mit Jimmy passiert war, etwas mit der Wyvern-Vertuschung zu tun hatte, würde sie vielleicht auch den nächsten logischen Schritt vollziehen und folgern, daß ihr Sohn wegen der Arbeit meiner Mutter in Gefahr geraten war. Obwohl das durchaus möglich, ja sogar wahrscheinlich war, würde sie danach vielleicht den Sprung in die Unlogik durchführen und annehmen, ich wäre ein Mitverschwörer, einer der Feinde, und sich von mir zurückziehen. Ganz gleich, was meine Mutter vielleicht getan hatte, ich war Lillys Freund und ihre beste Hoffnung, ihren Sohn zu finden.
»Deine beste Chance, Jimmys beste Chance, besteht darin, uns zu vertrauen. Mir, Bobby und Sasha. Vertraue uns, Lilly.«
»Ich kann nichts tun. Nichts«, sagte sie verbittert.
Ihr angespanntes Gesicht veränderte sich. Aber es entspannte sich keineswegs, etwa vor Erleichterung darüber, die ganze Last mit Freunden teilen zu können. Statt dessen verzerrte der Schmerz ihre Züge noch stärker, zu einem harten Knoten des Zorns, als würde die Einsicht, daß sie völlig hilflos war, ihr gleichzeitig den Mut nehmen und sie maßlos erzürnen.
Als ihr Mann Ben vor drei Jahren starb, hatte sie ihren Job als Schulsekretärin aufgegeben, weil sie und Jimmy von ihrem Gehalt allein nicht leben konnten. Mit dem Geld von der Lebensversicherung hatte sie einen Souvenirladen in einer Gegend am Hafen eröffnet, die von zahlreichen Touristen besucht wird, und mit harter Arbeit hatte sie das Geschäft in die schwarzen Zahlen gebracht. Um die Einsamkeit und die Trauer über den Verlust von Ben zu überwinden, beschäftigte sie sich in ihrer Freizeit viel mit Jimmy und brachte sich so einiges bei, wofür sie sich früher nicht besonders interessiert hatte: sie lernte, mit Fliesen umzugehen, legte dann die Fußwege um ihren Bungalow an, baute einen schmucken Palisadenzaun, nahm die Küchenschränke auseinander und polierte sie auf und wurde zu einer erstklassigen Gärtnerin, die sich heute des schönsten Gartens im ganzen Viertel rühmen konnte. Sie war es gewohnt, für sich selbst zu sorgen und mit allem klarzukommen. Selbst in Notzeiten war sie bislang stets optimistisch geblieben; sie ging jedwede Schwierigkeit an, kämpfte und hätte sich niemals für ein Opfer gehalten. Vielleicht zum erstenmal in ihrem Leben kam Lilly sich völlig hilflos vor, sah sich Kräften gegenüber, die sie weder ganz verstand, noch sich ihnen erfolgreich widersetzen konnte.
Diesmal reichte Selbstvertrauen nicht aus; und noch schlimmer war es für sie, daß sie offensichtlich einfach gar nichts tun konnte. Da es nicht ihrem Wesen entsprach, die Opferrolle einzunehmen, fand sie auch keinen Trost im Selbstmitleid.
Sie konnte nur warten. Darauf warten, daß man Jimmy lebend fand. Darauf warten, daß man ihn tot fand. Oder, und das war vielleicht am schlimmsten, ihr ganzes Leben lang warten, ohne je zu erfahren, was ihm zugestoßen war. Und genau wegen dieser unerträglichen Hilflosigkeit wurde sie gleichermaßen von Zorn, Entsetzen und einer unheilvollen Trauer gequält.
Endlich öffnete sie die Hände.
Sie hatte sich bemüht, nicht zu weinen, doch nun schimmerten ihre Augen feucht.
Weil ich dachte, sie wollte nach mir greifen, streckte ich erneut die Hände nach ihr aus. Statt dessen schlug sie ihre Hände vors Gesicht und schluchzte laut auf. »Chris«, sagte sie, »ich schäme mich ja so.«
Ich wußte nicht, ob sie damit meinte, daß sie sich ihrer Hilflosigkeit schämte oder daß sie die Beherrschung verloren hatte und nun doch weinte.
Ich stand auf und ging um den Tisch herum, um sie in den Arm zu nehmen.
Einen Moment lang reagierte sie nicht darauf, aber dann erhob sie sich und umarmte mich. Sie vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter und sagte mit einer Stimme, die vor Schmerz ganz heiser war: »Ich war so... o Gott... ich war so grausam zu dir.«
»Nicht doch, hör auf«, sagte ich geradezu benommen vor Verblüffung. »Lilly, Dachs, du doch nicht, niemals.«
»Ich hatte nicht... den Mut.« Sie zitterte wie bei einem Fieberanfall. Die Worte kamen ihr nur zögernd über die Lippen, sie klapperte mit den Zähnen und klammerte sich mit der Verzweiflung eines verirrten und verängstigten Kindes an mich. Ich hielt sie fest, konnte aber nicht sprechen, weil ihr Schmerz an mir zerrte. Mich verblüffte noch immer ihr Bekenntnis, sie würde sich schämen; aber wenn ich jetzt zurückschaue,
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