Im Bann der Dunkelheit
gedacht, wir finden vielleicht etwas, was sie übersehen haben. Und das hier lag unter einem Kissen.«
Als ich das Blatt ins Kerzenlicht hielt, sah ich eine mit Tusche gemalte Skizze eines fliegenden Vogels mit angelegten Flügeln in der Seitenansicht. Unter dem Vogel stand in ordentlicher Handschrift eine Botschaft: Lote.s Wing wird in der Hölle mein Diener sein.
»Was hat dein Schwiegervater damit zu tun?« fragte ich Lilly.
Neues Elend verdunkelte ihr Gesicht. »Ich weiß es nicht.«
Bobby trat von der Veranda herein. »Wir müssen jetzt los, Bruder.«
Mittlerweile mußte die aufziehende Dämmerung allen bewußt sein. Die Sonne war zwar noch nicht hinter den Hügeln im Osten aufgegangen, aber die Nacht wurde bleicher, wandelte sich von schwärzestem Ruß zu grauem Staub. Hinter den Fensterscheiben war der Garten nicht mehr eine Landschaft in schwarz abgestuften Schattierungen, sondern eine weiche Bleistiftzeichnung. Ich gab Bobby die Skizze der Krähe. »Vielleicht hat das doch nichts mit Wyvern zu tun. Vielleicht hegt jemand einen Groll gegen Louis.«
Bobby betrachtete die Zeichnung, schien aber nicht davon überzeugt, einen Beweis dafür in Händen zu halten, daß es sich bei der Entführung lediglich um einen Racheakt handelte. »Alles läuft auf Wyvern hinaus, so oder so.«
»Wann ist dein Schwiegervater aus dem Polizeidienst ausgeschieden?« fragte ich Lilly.
»Vor ungefähr vier Jahren«, sagte sie, »ein Jahr vor Bens Tod.«
»Und bevor in Wyvern alles danebenging«, sagte Sasha sachlich. »Vielleicht hat diese Sache also doch nichts damit zu tun.«
»Sie hat etwas damit zu tun«, sagte Bobby unbeugsam. Er tippte mit einem Finger auf die Krähe. »Das ist viel zu abgedreht, um nichts damit zu tun zu haben.«
»Wir sollten mit deinem Schwiegervater sprechen«, sagte ich zu Lilly.
Sie schüttelte den Kopf. »Geht nicht. Er ist in Shorehaven.«
»In dem Pflegeheim?«
»Er hatte in den letzten vier Monaten drei Schlaganfälle. Nach dem dritten ist er nicht mehr aus dem Koma erwacht. Er kann mit niemandem sprechen. Die Ärzte rechnen nicht damit, daß er noch lange lebt.«
Als ich mir die Zeichnung der Krähe noch einmal ansah, wurde mir klar, daß sich Bobbys .Viel zu abgedreht. nicht nur auf die handschriftlichen Worte, sondern auch auf den Vogel selbst bezog. Die Zeichnung hatte eine böse Aura: die Federn der Flügel sträubten sich, der Schnabel war geöffnet, als wollte er einen Schrei ausstoßen, die Krallen waren gespreizt und gekrümmt, und das Auge war zwar nur ein weißer Kreis, schien aber einen bösen Zorn auszustrahlen.
»Darf ich das behalten?« fragte ich Lilly.
Sie nickte. »Es kommt mir unrein vor. Ich will es nicht anfassen.«
Wir ließen Lilly mit einer Tasse Tee und einem Ausmaß an Hoffnung zurück, das, hätte man es messen können, nicht mal den paar Tropfen Saft gleichgekommen wäre, die sie aus der Zitronenscheibe auf ihrer Untertasse pressen konnte.
»Bobby«, sagte Sasha, als wir die Verandatreppe hinuntergingen, »bring Jenna Wing lieber so schnell wie möglich her.«
Ich reichte ihm die Zeichnung mit der Krähe. »Zeig ihr das. Frag sie, ob sie sich an irgendeinen Fall erinnert, den Louis bearbeitet hat... irgend etwas, was das hier erklären könnte.«
Als wir durch den Garten gingen, nahm mich Sasha an der Hand.
»Wer legt die Musik auf, während du weg bist?« fragte Bobby.
»Doogie Sassman ist für mich eingesprungen«, sagte sie.
»Mr. Harley-Davidson, der wandelnde Berg von Fickmaschine«, sagte Bobby, als er uns an der Ziegelwand neben der Garage vorausging. »Auf was für Musik steht er - Heavy Metal für die ganz harten Headbanger?«
»Walzer«, sagte Sasha. «Foxtrott, Tango, Rumba, Cha-ChaCha. Ich hab ihm gesagt, er soll ja die Lieder auflegen, die ich vorbereitet habe, denn sonst würde er nur Tanzmusik spielen. Er ist ganz versessen auf Gesellschaftstänze.«
Bobby stieß gerade das Tor auf, blieb aber stehen, drehte sich um und sah Sasha ungläubig an. »Hast du das gewußt?« sagte er dann zu mir. »Nein.«
»Gesellschaftstänze?«
»Er hat schon ein paar Preise gewonnen.«
»Doogie? Der ist doch so groß wie ein VW-Käfer.«
»Der alte Käfer oder der neue Beetle?«
»Der neue«, sagte Bobby.
»Er ist groß, aber auch sehr anmutig«, sagte Sasha.
»Er hat einen engen Wendekreis«, sagte ich zu Bobby.
Das, was so ungezwungen zwischen uns geschah, das, weshalb wir uns so nahestanden, geschah auch jetzt. Die Masche, der Rhythmus oder
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