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Im Bann der Dunkelheit

Im Bann der Dunkelheit

Titel: Im Bann der Dunkelheit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dean R. Koontz
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schönsten Ballett, das richtige Tänzer je auf einer Bühne aufführten, und so ergreifend wie das schönste Musikstück, das je das Herz rühren sollte - aber die Stimmung, die hier ausgedrückt wurde, war Kummer und Leid. Ein so tiefer Kummer, daß es mir die Kehle zuschnürte und das Gefühl hervorrief, etwas Bittereres als Blut würde durch meine Adern pumpen.
    Bei Dichtern, aber auch bei jenen, deren Magen sich schon zusammenzieht, wenn man Lyrik nur erwähnt, rufen fliegende Vögel normalerweise Gedanken an Freiheit, Hoffnung, Vertrauen und Freude hervor. Das Schlagen der Schwingen war hier jedoch so freudlos wie das Klagen eines arktischen Windes, der über tausend Meilen kargen Eises gekommen war; es war ein Geräusch der Verzweiflung, das in meinem Herzen zu einem eisigen Gewicht gefror. Mit dem ausgezeichneten Timing und einer Choreographie, die auf übernatürliche Verbindungen zwischen den Angehörigen des Schwarms hinwies, vereinigte der Doppelring der Vögel sich fließend zu einer langsam höhersteigenden Spirale. Die Tiere flogen wie ein dunkler Rauchfaden empor, im Kreis herum und immer höher durch den Luftkanal der Nacht, zogen über den pockennarbigen Mond und waren vor dem Hintergrund der Sterne immer undeutlicher auszumachen, bis sie sich schließlich wie Dampf und Ruß über dem Dach der Welt auflösten.
    Alles war ruhig. Windstill. Tot.
    Dieses Verhalten der Nachtfalken war unnatürlich gewesen, sicher, aber dabei nicht nur eine bedeutungslose Anomalie, eine bloße Kuriosität. In ihrer nächtlichen Show lag Berechnung - und damit auch Bedeutung.
    Das Rätsel widersetzte sich einer einfachen Lösung. Eigentlich war ich mir gar nicht so sicher, ob ich überhaupt alle Puzzleteile zusammenfügen wollte. Das daraus resultierende Bild war wahrscheinlich nicht besonders beruhigend.
    Die Vögel selbst stellten vielleicht keine Bedrohung dar, aber in ihrer bizarren Vorstellung konnte man wohl kaum etwas Glück Verheißendes sehen.
    Ein Zeichen. Ein Omen.
    Und eben keines, das einen veranlaßt, Lotto zu spielen oder mal schnell nach Las Vegas zu fliegen. Ganz bestimmt kein Omen, nach dem man eine bedeutende Summe in Aktien investieren sollte. Nein, es war ein Omen, das einen dazu anstiften könnte, nach New Mexico aufs Land zu ziehen, hinauf in die Schlupfwinkel der Sangrede-Cristo-Berge, so weit wie nur möglich weg von der Zivilisation, mit einem Lastwagen voller Vorräte, zwanzigtausend Schuß Munition - und einem Gebetbuch.
    Ich schob die Pistole in das Schulterhalfter zurück.
    Plötzlich fühlte ich mich müde, wie ausgelaugt.
    Ich atmete ein paarmal tief ein, aber jeder Atemzug war so schal wie die Luft, die ich ausatmete.
    Als ich die Hand hob, um mir in der Hoffnung, auf diese Weise die Müdigkeit abstreifen zu können, über das Gesicht zu fahren, rechnete ich damit, daß meine Haut naß und fettig war. Statt dessen war sie trocken und heiß.
    Ich stieß unmittelbar unter meinem linken Wangenknochen auf einen münzgroßen wunden Punkt. Während ich ihn sanft mit einer Fingerspitze massierte, versuchte ich mich zu erinnern, ob ich mir irgendwann während des nächtlichen Abenteuers das Gesicht geprellt hatte.
    Jeder Schmerz, der ohne ersichtliche Ursache auftritt, ist ein mögliches Frühwarnzeichen für eine sich bildende krankhafte Veränderung, etwa für Krebs, dem ich bislang aber bemerkenswerterweise entgangen bin. Wenn bei mir so ein verdächtiger Fleck oder so eine wunde Stelle auf dem Gesicht oder den Händen auftritt, die auch bei mir dem Licht ausgesetzt sind, obwohl ich mich regelmäßig mit Sonnenschutzcreme einreibe, besteht die große Wahrscheinlichkeit, daß es sich um eine bösartige Veränderung handelt.
    Ich nahm die Hand vom Gesicht und ermahnte mich, in der Gegenwart zu bleiben. Wegen des XP war ich ohne Zukunftsaussichten geboren worden, aber trotz meines Handicaps führe ich ein erfülltes - und vielleicht sogar ein besseres - Leben, indem ich mich sowenig wie möglich mit dem beschäftige, was die Zukunft vielleicht bringt. Die Gegenwart ist lebendiger, kostbarer, erfüllender, wenn man begreift, daß sie alles ist, was man hat.
    Carpe diem, schrieb der Dichter Horaz vor über zweitausend Jahren. Nutze den Tag! Und vertraue nicht auf das Morgen.
    Carpe noctem funktioniert für mich genauso gut. Ich nutze die Nacht, presse ihr alles ab, was sie zu bieten hat, und weigere mich, über die Tatsache nachzudenken, daß irgendwann die Dunkelheit aller Dunkelheiten mir genauso

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