Im Bann der Engel
geflohen.
Madame Hazard warf dem, was von Jack übrig war, einen grimmigen Blick zu. Ihre Stimme war leise, als sie zu sprechen begann, trotzdem hätte Eis unmöglich kälter sein können. »Ich möchte wissen, wie es den Eindringlingen gelungen ist, sich an zehn bewaffneten Männern vorbei zu schleichen.«
Die besagten Zehn sahen peinlich berührt zu Boden.
»Weldon«, sprach sie einen der Männer nun direkt an, »ich möchte alles über die Angreifer wissen. Und ich möchte mit jedem sprechen, der diese Leute gesehen hat. Wir leben in einer Kleinstadt, es muss ein bekanntes Gesicht dabei gewesen sein.«
Sie erblickte Elena. »Miss Winterstone, begleiten Sie mich bitte.«
Elena schob sich an den mutlosen Wachmännern vorbei. Nicht wenige von ihnen trugen Blessuren.
»Sagen Sie mir, was das hier zu bedeuten hat. Außer müdem Gestammel möchte anscheinend niemand etwas zur Aufklärung beitragen.«
»Ich war in meinem Büro, als plötzlich ein kräftiger Mann mit einem Messer hereinkam und mich umbringen wollte.«
»Wie ist er ins untere Stockwerk gelangt?«
»Mit dem Fahrstuhl«, sagte Elena.
Madame Hazard verdrehte die Augen und seufzte. »Wie konnten die Fremden von der geheimen Sektion unserer Einrichtung wissen?«
»Ach, Sie meinen, ob jemand den Eindringlingen den Weg gewiesen hat?«
»Kluges Kind.«
Elena biss sich auf die Unterlippe. Die Worte »Wesley« und »Verrat« gingen eine Symbiose in ihrem Kopf ein.
Madame Hazard musterte sie und blieb schließlich stehen. Elena war gezwungen, ebenfalls inne zu halten. Der Kessel neben den beiden strahlte eine immense Hitze aus. Madame Hazard schien sie nichts auszumachen. Ihre Haut wirkte jetzt glatt und kühl.
»Sie wissen doch etwas und überlegen, ob Sie mich ins Vertrauen ziehen sollen. Sie wägen in diesem Moment gewiss schon die Vorteile und Nachteile gegeneinander ab. Sie erforschen Ihr Bauchgefühl, das bei Ihnen eine ebenso große Rolle spielt wie Ihr glasklarer Verstand. Ist es nicht so?«
Elena konnte dem Blick vom Boss keine Sekunde standhalten.
»Liebes, überlegen Sie gut. Ist es die Person wirklich wert, von Ihnen geschützt zu werden? Vergessen Sie nicht, dass ich Ihre Lohntüte fülle.«
»Ich weiß nicht, ob es etwas zu bedeuten hat, aber Wesley war der Einzige außer mir, der so spät noch da war.« Elena hatte das Bedürfnis, sich die Zunge herauszureißen. Wie konnte sie nur? Wesley war der Assistent vom Boss.
»Wesley? Interessant.«
Madame Hazard wandte sich ab und rief die Schutzmänner zusammen. Elena blieb abseits stehen. Sie ahnte, dass ihr laut geäußerter Verdacht nicht ohne Folgen bleiben würde. Und, dass sie zwischen zwei Fronten geriet, denen sie nicht gewachsen war. Sie wollte nach all der Aufregung nur noch in ihr Bett. Mit hängenden Schultern schlich sie aus der Halle.
Ihre Schritte waren wie die der mechanischen Reinigungsmänner, die ihre Besen in einem monotonen Rhythmus schwangen und immer noch nicht gelernt hatten, zwischen den Beinen der Passanten und Straßendreck zu unterscheiden. Seitdem es mehrere Unfälle gegeben hatte, wurden sie nur noch einmal pro Woche in der Nacht eingesetzt. Elena umrundete die emsigen Maschinen. Erst, als das prächtige Dampfmobil des Bürgermeisters an ihr vorbei keuchte, wurde sie aufmerksam. Wo will der so spät hin? Sie sah dem Gefährt nach. Es bog in Richtung des Außenbezirks ab, dorthin, wo die Fabrik lag. Ihr fiel auf, dass noch andere mit den Blicken dem Weg des Dampfmobils folgten. Zwei Männer in schäbigen Mänteln mit verbeulten Hüten auf dem Kopf tuschelten und sahen sich misstrauisch um. Elena wechselte die Straßenseite, die Männer taten es ihr gleich. Sie drehte sich um und rannte die Straße zurück. Sie verfluchte den Umstand, dass Cravesbury keine Gendarmerie besaß, einige Ordnungshüter als Geleitschutz könnte sie augenblicklich mehr als gut gebrauchen. Früher hatte es wohl eine eigene Wachstation gegeben, die jedoch aufgrund mangelnder Kriminalität geschlossen worden war. Der Reverend war in Cravesbury die Stimme der Ordnung. Wer bewaffneten Schutz wollte, musste sich selbst um Söldner bemühen. Das Pub verhieß Menschen, und Menschen bedeuteten Sicherheit. Sie riss die Tür des Lokals auf und hastete hinein. Ohne sich umzublicken, steuerte sie die Theke an und bestellte ein Pint Ale. In diesem Moment setzte der Wirt zum verhasstesten Satz ganz Cravesburys an: »Last orders, please.«
Zahlreiche Finger schossen in die Höhe, um eine letzte
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