Im Bann Der Herzen
die Betreffenden selbst entscheiden. Wir schaffen für sie nur Gelegenheiten.«
»Ja, das fiel mir auf«, sagte er trocken. »Zu ihrem eigenen Besten, natürlich.«
»Es schadet ja niemandem«, sagte Chastity, die ihren defensiven Ton selbst sehr wohl heraushörte. Das ganze Thema traf einen wunden Punkt und war ihr unerwünscht. Gezielt widmete sie ihre Aufmerksamkeit nun der Spielkarte und prüfte sie hinter der Hand.
»Sind alle bereit?«, rief Prudence, die offenbar die Regie übernommen hatte. »Also - auf den Speicher.« Sie ging voraus, die anderen folgten ihr gottergeben.
Auf dem dunklen Dachboden gab es viel Gekicher und Gescharre. Schemenhafte Gestalten bewegten sich durcheinander und versuchten einander auszuweichen. Douglas, der keine entscheidende Karte gezogen hatte, kam zu der Einsicht, dass er sich davonstehlen konnte, ohne jemandem den Spaß zu verderben, und entdeckte einen uralten, nach Hundehaaren riechenden Armsessel in einer finsteren und verlassenen Ecke. In der Hoffnung, unentdeckt zu bleiben, ließ er sich nieder, um das Ende des Spieles abzuwarten.
Ein Aufschrei in allernächster Nähe riss ihn aus seinem Dösen. Eine leichte und unbekümmerte Stimme erklärte mit geradezu lächerlichem Akzent: »O-lä-lä. Finger weg, M'si-eur. Sie nehmen sich Frei'eiten 'eraus.«
Douglas kniff die Augen in der Finsternis zusammen. Diesen falschen Akzent hatte er schon einmal gehört. Er war so überrascht, dass es in seinen Ohren dröhnte.
»Ich erlaube mir keine Freiheiten, Frau Gemahlin«, hörte er Gideon entrüstet sagen. »Ich versuche nur, Sie zu erdrosseln.«
»O ... Mord ... ein gemeiner Mord!«, kreischte Prudence, vergaß die Rolle der französischen Zofe und brach rücklings in den Armen ihres Mannes zusammen. Minutenlang herrschte chaotisches Getrappel und Scharren, dann wurden Öllampen angezündet, und die Mitspieler tauschten erwartungsvolle Blicke. Prudence lag auf dem Boden. Der schuldbewusst und zugleich verwirrt aussehende Gideon stand über ihr und hielt das Pik-Ass in der Hand.
»Na, das war aber nicht sehr gut, Daddy«, erklärte Sarah.
»Jetzt wissen wir alle, dass du Prue ermordet hast, weil du es selbst verraten hast.«
»Tut mir Leid«, sagte Gideon und bückte sich, um seiner Frau die Hand zu reichen und ihr beim Aufstehen zu helfen. »Ich glaube, ich habe wohl nicht ganz begriffen, um was es bei diesem Spiel geht.«
»Wir versuchen es noch einmal«, sagte Prudence, als sie Sarahs Enttäuschung sah. »Noch eine Runde. Alle müssen mir ihre Karten geben.«
Chastity überließ ihr ihre Karte und fragte sich, was mit Douglas passiert sein mochte. Sie war sicher, dass er mit ihnen heraufgekommen war, nun aber war er nirgends zu sehen. Vielleicht machte er irgendwo ein Nickerchen. Die Teilnahme an diesen Gesellschaftsspielen war ja keine Pflichtübung.
Sie traf ihn im Salon an, als die Gesellschaft sich schließlich zum Tee hinunterbegab. Er hatte es sich in einem tiefen Armsessel bequem gemacht und las in einer alten Ausgabe der Times. Chastity brachte ihm eine Tasse Tee mit einem großen Stück vom Weihnachtskuchen. »Das Spiel hat dir nicht sonderlich zugesagt«, erkannte sie lächelnd, als sie Tasse und Kuchenteller auf ein kleines Beistelltischchen stellte. »Man kann es dir nicht verdenken. Aber Sarah hat es genossen.«
»Ich bin einfach eingeschlafen«, sagte er. Er kam ihr sehr ernst vor, wie er sie jetzt ansah, mit dunklen Augen, die fast schwarz waren und merkwürdig ausdruckslos wirkten. »Eben kam der Anruf eines Patienten. Leider muss ich morgen mit dem ersten Zug zurück nach London«, sagte er und brach ein Stückchen Glasur vom Kuchen ab.
»Ach ... so bald schon.«
»Ja, es tut mir Leid. Ein Notfall.« Er zerkrümelte Marzipan zwischen den Fingern.
Mit gezwungenem Lächeln sagte sie leise: »Uns bleibt noch heute Nacht. Eine letzte Nacht.«
Er blickte mit undeutbarer Miene auf. »Ja, eine letzte Nacht.«
Chastity nickte und ging wieder zurück an den Teetisch. Sie hatte gewusst, dass es so kommen würde. Immer gab es eine letzte Nacht. Wenn sie nach London zurückkehrten, würde dieses Intermezzo beendet sein. Aber sie hatte gehofft ... Nein, gehofft hatte sie nicht, doch war sie für das Ende noch nicht bereit. Sie hatte keine Zeit gehabt, sich vorzubereiten.
Ihre Leidenschaft hatte in jener Nacht etwas Verzweifeltes an sich. Einen Hunger, für den es keine Sättigung gab. Es ist wie eine Droge, dachte Chastity, die von Douglas nicht genug
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