Im Bann Der Herzen
er auf sie hinunter. »Wäre es zu viel verlangt, wenn ich Sie bitte, dieses kleine Abenteuer für sich zu behalten?«
Die Bitte hörte sich an, als hätte er sie nur mit großer Mühe über die Lippen gebracht. Sie sagte ziemlich kühl: »Es ist nicht meine Gewohnheit zu klatschen. Außerdem gehen mich Ihre Angelegenheiten nichts an.«
Er schien nicht sehr überzeugt, doch er sagte nach einem knappen Nicken: »Beeilen wir uns, ich erfriere noch.«
Er nahm ihre Hand und zerrte sie mit sich, während sie etliche Häuserreihen und eine Kirche hinter sich ließen, ein paar armselige Straßen durchhasteten - bis sie unvermittelt in die breite Kensington High Street einbogen. »An der Ecke nehmen wir den Omnibus«, sagte er. »Er fährt direkt zur Oxford Street.«
Chastity wollte schon sagen, dass sie es bei dieser Kälte vorzöge, eine Droschke zu nehmen, hielt aber den Mund. Nach allem, was sie heute gesehen hatte, hätte es sie nicht gewundert, wenn der Doktor kein Fahrgeld gehabt hätte. Sie hatte es, doch eingedenk seiner Reaktion auf ihre Anspielung, er leide unter Geldknappheit, wollte sie eine Wiederholung dieser Szene nicht riskieren, indem sie anbot, die Fahrt selbst zu bezahlen.
Zum Glück kam der Bus rasch. Er war ziemlich voll, Douglas aber schob sie ohne viel Umstände in die Mitte, wo ein Sitz oder vielmehr ein halber frei war, da die andere Hälfte von einer großzügig proportionierten, mit Päckchen bela-denen Frau in Anspruch genommen wurde, die eine umfangreiche Handtasche auf den Knien hielt, der sie ihr Strickzeug entnommen hatte. Chastity zwängte sich neben sie, und Douglas musste stehen, eine Hand auf der Sitzlehne, während er sich mit der anderen an einer Halteschlaufe festhielt. Er war so groß, dass diese seine Schulter berührte und er sie erreichen konnte, ohne sich danach recken zu müssen.
»Also, welche drängenden Fragen wollten Sie mir stellen?«, erkundigte er sich und gab dem Schaffner einen Sixpence als Fahrpreis, während der Omnibus ruckartig anhielt.
Da Chastitys beleibte Sitznachbarin aussteigen wollte, hatte Chastity Zeit, ihre hastig erfundene Rechtfertigung zu überdenken. Nach den Ereignissen des Nachmittags erschien sie ihr reichlich matt. Mit gemurmelten Entschuldigungen quetschte die Frau sich an ihr vorüber, mit gefährlich baumelnden Päckchen und Stricknadeln, die bedrohlich aus der weit offenen Tasche ragten. Als sie schließlich den Mittelgang überwunden hatte, Entschuldigungen, Püffe und Kratzer im Gefolge, rutschte Chastity auf den von der Vorgängerin angenehm erwärmten Fensterplatz, und Douglas setzte sich neben sie.
»Nun?«, drängte er.
Die Ausrede war matt, aber mehr hatte sie nicht. »Ich war nicht sicher, ob wir uns vor Weihnachten noch einmal sehen würden, und ich habe Ihre Adresse nicht«, sagte sie. »Ich wollte fragen, was Sie für den Aufenthalt auf Romsey planen?«
»Das war die Frage ... mehr nicht?«, äußerte er ungläubig. »Sie folgten mir in die finsteren Abgründe von Earl's Court, um mich etwas so Banales zu fragen?«
»Sie mögen es banal nennen«, stieß Chastity hervor, die nun in die Defensive geraten war. »Als Ihre Gastgeberin finde ich es nicht im Mindesten banal. Beabsichtigen Sie am Heiligen Abend oder am Christtag zu kommen? Und wie lange wollen Sie bleiben? Werden Sie Personal mitbringen? Das sind lauter wichtige Fragen.«
Er legte den Kopf zurück und lachte ohne die geringste Spur von Heiterkeit. »Wichtige Dinge, lieber Gott! Ja, ich nehme an, für manche Menschen sind sie wichtig.« Er drehte den Kopf und fixierte sie. »Wie können Sie nach allem, was Sie heute Nachmittag zu sehen bekamen ... Nein, verzeihen Sie.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß sehr wohl, dass man von jemandem wie Ihnen kein Verständnis erwarten kann.«
Von jemandem wie Ihnen. Es war nicht die Kälte, die Chastity frösteln ließ. Wofür hielt er sie denn? Sie war geschockt, entsetzt und voller Mitleid mit diesen Menschen. Unter anderen Umständen hätte sie Douglas Farrell grenzenlos bewundert, doch seine Feindseligkeit verbot ihr das geradezu. Außerdem musste er die Absicht haben, diese Praxis aufzugeben, sobald er sich unter den Reichen und Angesehenen dieser Stadt mit einer vermögenden Frau an seiner Seite niedergelassen hatte. Das alles konnte sie allerdings nicht vorbringen, weil sie ja von der Rolle einer Gattin bei seinen ehrgeizigen Plänen nichts wissen durfte. Auch nichts von der Verachtung, mit der er auf die vornehme
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