Im Bann der Leidenschaften
Dann seht ihr den Obelisken auf dem Place de la Concorde.“
Als ich me ine Freundinnen dabei beobachte, wie sie sich suchend nach dem berühmten Geschenk der Ägypter an die Franzosen umsehen, das mich stets an einen übermäßig hohen Marterpfahl erinnert, bemerke ich einen Mann, mit vorhin mit uns in die Metro gestiegen ist. Jetzt hat er die Metro auf der anderen Seite der Straße verlassen. Auch er sieht sich suchend um. Ich könnte wetten, dass er mit der Sucherei erst begonnen hat, nachdem er mir aufgefallen ist. Seine hochgewachsene, kräftige Gestalt ist nicht gerade unauffällig. Ebenso wenig seine Kleidung, die mir selbst für Pariser Verhältnisse auffällig elegant vorkommt. Ich bin mir fast sicher, dass ich ihn nicht zum ersten Mal sehe, weiß aber nicht, wohin ich ihn stecken soll.
„ Ich habe genug von diesem langen Stein gesehen“, meldet sich Mel, „ich will jetzt endlich zu Chanel! Gott, was habe ich dafür gespart! Ich werde mir eine Tasche kaufen.“ Mel klopft auf ihre Jackentasche. Darin steckt ihre Geldbörse.
„Welche Tasche? Wie heißt sie? Oder hat sie keinen Namen?“, fragt Jane, als wir ein Stück die Rue Rivoli hinunterlaufen, und dann links in unsere schmale Zielstraße, die Rue Cambon einbiegen.
„Die Classic natürlich“, entgegnet Mel entrüstet. „In Beige p asst sie zu allen meinen Sachen. Ich bin schließlich nur eine arme Lehrerin und kann es mir nicht erlauben, mir zu jedem Outfit die passende Tasche zu kaufen.“
Auch ich bes itze die Classic, allerdings in Schwarz. Philippe hat sie mir geschenkt. Einfach so, um mir eine Freude zu machen. Abgesehen davon, dass sie von Chanel ist, gefällt sie mir überhaupt nicht. Meiner Meinung nach sieht sie aus wie eine auf Miniformat gefaltete Steppdecke. Es gibt Unmengen bedeutend schönerer Taschen. Warum Philippe mir diesen hässlichen Klassiker geschenkt hat, ist mir so unverständlich wie die Sache mit dem Flug. Warum hat er den Flug verschoben? Er würde mitten in der Nacht in Dubai ankommen, morgen am Strand hinter dem Burj al Arab Modefotos schießen und dann mitten in der Nacht zurückfliegen. Warum tut er sich so kurz vor unserer Hochzeit einen solchen Stress an? Nur um sich unter der Dusche einen runterzuholen, sobald ich die Türe hinter mir zuziehe?
„Hey, Annie“, ruft Jane. Sie, Mary-Beth und Mel sind hinter mir stehen geblieben. „Wo bist du bloß mit deinen Gedanken?“
„Die Hochzeit“, brumme ich, drehe mich um und gehe zu meinen Freundinnen, die mit großen Augen in die spartanische, dafür aber umso edlere Auslage von Chanel starren. Ein einzelnes weißes Seidenhalstuch liegt dort neben einem breiten goldenen Armreif, in den kleine Ägypterinnen aus irgendeinem weißen Edelstein eingelassen sind.
„Meinst du wirklich, wir können da so reingehen? So wie wir aussehen?“ Mary-Beth zeigt auf ihre Jeans und sieht von einer zur anderen.
„Also ich gehe jetzt da hinein“, sagt Mel im Brustton der Überzeugung. „Das ist ein Geschäft, die wollen verkaufen und ich habe Geld.“
„Sie hat recht“, pflichtet Jane ihr bei. „Außerdem laufen die reichsten Leute oft rum wie arme Schlucker, damit sie nicht auffallen.“
In diesem Punkt bin ich zwar anderer Überzeugung, folge ihr aber trotzdem. Ich bin nicht zum ersten Mal bei Chanel, betrete aber zum ersten Mal den öffentlichen Verkaufsraum und nicht die privaten Verkaufsräume, in die Philippe mich geschleust hat. Ich staune, wie freundlich sowohl der Türsteher als auch die Verkäuferinnen uns begrüßen, obwohl wir vier aussehen, als gehörten wir zu einer dieser Paris-Bustouren.
„Meinst du, diese freundlichen Damen geben mir eine Einkaufstüte, wenn ich darum bitte?“, flüstert Mary-Beth. Verhalten sieht sie sich in dem hellen, sparsam dekorierten Laden um. In einem sehr großen Regal steht in jedem quadratischen Fach eine einzige Tasche.
„Du meinst umsonst?“, fragt Jane so laut, dass Mary-Beth sich noch kleiner macht als sie ohnehin ist, und sich außerdem erschrocken umsieht, ob irgendwer das Gespräch mitbekommen hat.
Mel zieht am Ärmel meiner Jacke. Sie hat die langweilige, beigefarbene Stepptasche entdeckt, für die sie ihre mühsam verdienten Dollar ausgeben will. Als ich meinen Kopf zu Mel herumdrehe, sehe ich ihn wieder. Der Mann aus der Metro steht nur wenige Meter von mir entfernt vor demselben Regal und blickt auf die Tasche vor seinen Augen. Ist das ein Zufall? Ich kann es kaum glauben. Paris ist riesig und ich sehe
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