Im Bann der Leidenschaften
einen französischen Kuss probiert hat. Ich bin froh, dass es nicht um mich geht. Der Kaffee schmeckt zwar nicht wie bei Olivier’s, sondern eher wie amerikanische Brühe mit ganz viel heißer Milch, doch er tut mir gut. Dafür schmeckt mein Croissant umso besser. So langsam kehren meine Lebensgeister zurück. Zusammen mit der Sonne und der Anwesenheit meiner drei gut gelaunten Freundinnen fühlt sich dieser Tag beinahe an wie normal.
Entschlossen, mich nicht weiter von einem Fremden und meinem erbärmlichen Fehltritt verunsichern zu lassen, springe ich aus dem Bett. Mit einem Mal weiß ich, was zu tun ist. Ich werde mich wie eine Erwachsene benehmen, nicht wie ein unerfahrenes Mädchen. Das Erlebnis der vergangenen Nacht werde ich zu den Akten legen, genauso wie Mel gesagt hat. Ich werde es in den hintersten Winkel meines Gedächtnisses schieben. Und jedes Mal, wenn ich mir bieder und langweilig vorkomme, werde ich mich daran erinnern, wie verrucht ich sein kann. Denn mal ganz im Ernst: Wer hat schon jemals von einem Fremden einen Orgasmus gemacht bekommen, bei dem der gesamte Bereich da unten nicht berührt worden ist? Jedenfalls nicht direkt. Wenn ich mich einst daran erinnere, werde ich dazu ein tiefgründiges Lächeln aufsetzen, dessen Anlass nur ich und Mel kennen – und ein gewisser Jerôme Chabrol, den ich nie in meinem Leben wiedersehen werde.
„Ich springe kurz unter die Dusche“, verkünde ich mit fester Stimme, „und dann rufe ich uns ein Taxi und fahren zur Anprobe.“
Im Gegensatz zu meiner nächtlichen Dusche, bringt mich diese Dusche auf Vordermann. Die Orangenduschcreme duftet himmlisch und ich drehe abwechselnd das heiße und das kalte Wasser auf, allerdings nicht so extrem wie ich das vor ein paar Stunden getan habe. Der Nachtschweiß versickert im Abfluss und mit ihm der Traum. Unter der Wechseldusche verwandelt sich die Erinnerung an mein Erlebnis im Barone in ein aufregendes kleines Romankapitel. Nur meine gereizten Brustwarzen sind Zeuge, dass die Geschichte wirklich passiert ist. Aber die Rötungen könnten genauso gut von Philippe stammen, der mich gestern Vormittag unter der Dusche geärgert hat. Ich versuche schon einmal das tiefgründige Lächeln, stelle das Wasser aus und massiere mir einen Klecks von der Haarkur in die verknoteten Locken. Man soll die Creme ausspülen, doch ich lasse das Zeug immer auf den Haaren. Bei mir macht es die Haare nicht schwer, sondern einfach nur weich. Als ich aus der Dusche heraustrete, bin ich ein neuer Mensch – und hoffe, dass dieser Zustand möglichst lange vorhält.
Um meine wirklich arg strapazierten Nippel nicht zu reizen, ziehe ich den weichesten BH an, den ich habe. Statt der Spitzenstrings, die ich neuerdings trage, schlüpfe ich in einen alten Baumwollboxer. Ich fühle mich frisch und sauber. Und unglaublich locker. Grinsend strecke ich mir in dem Spiegel in meinem begehbaren Kleiderschrank die Zunge entgegen.
„Anziehen“, fordere ich mich selbst auf. In der vergangenen Woche habe ich mir bei einem nächtlichen Shopping-Ausflug zu H & M auf den Champs Elysées (die haben vierundzwanzig Stunden geöffnet) ein dunkelblaues, lockeres T-Shirt-Kleid gekauft. Bei dem Wetter und bei der Anprobeorgie, die mich heute erwartet, ist dies das perfekte Outfit. Es ist schnell an- und ausgezogen und eventuelle Schweißflecken schluckt der Stoff.
Ich hole mein Handy aus dem Nachttisch. Keine neuen Nachrichten. Während ich ein Taxi bestelle, um einer möglichen Begegnung mit Jerôme an der Metro-Station vorzubeugen, betrachte ich mich noch einmal im Spiegel und zupfe meine noch feuchten Locken in Form. Parfüm, Make-up und Wimperntusche lasse ich heute aus. Schließlich will ich mir nachher bei den Anproben nicht das Hochzeitskleid versauen. Ich verteile nur schnell einen Klacks Feuchtigkeitscreme mit Lichtschutzfaktor auf Gesicht, Hals und Hände, schnappe mir ein Paar Flip-Flops in der Farbe meines Kleides, hänge meine Alltagshandtasche um und laufe nach unten zu meinen Freundinnen.
„Du siehst aus, als wenn du bald heiratest“, empfängt mich Jane, die zusammen mit Mary-Beth und Mel auf der goldenen Schleiflackbank neben der Wohnungstür auf mich wartet.
„Wie das blühende Leben“, stimmt Mary-Beth zu.
„Total locker.“ Mel grinst breit.
Ich grinse zurück und zwinkere ihr zu, woraufhin sie gleichzeitig die Augenbrauen hochzieht und weitergrinst. Wir verstehen uns gerade blind.
„Danke, dass du dicht hältst“, flüstere ich ihr
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