Im Bann der Leidenschaften
ganz besonders, als Jerôme antwortet. Zum Glück sind alle Augen auf ihn gerichtet. Nur ich starre gebannt auf meine Crème Brûlée.
„Ich weiß es nicht“, Jerômes Antwort kommt über alle Maße gedehnt, „wer kann schon von sich behaupten, einen anderen Menschen wirklich zu kennen?“
Mary-Beth bestätigt Jerômes Ansicht mit einem heftigen Nicken. Ich weiß ganz genau, wen sie damit meint. Mel kichert. Ich sehne mich nach einer Falltür unter meinem Stuhl. Ersatzweise kümmere ich mich um den restlichen Wein, der samtrot umherschwappt, während ich mich an mein Glas klammere.
„Ich wollte ja nur wissen, ob ich die Unglückliche, die dich nicht bekommt, schon einmal irgendwo gesehen habe.“ Philippe nimmt die Rotweinflasche aus einem der vier Getränkekübel, die auf jedem Tisch stehen. Fragend blickt er mich an.
Mir schießt das Blut in den Kopf. Was soll das? Ahnt Philippe irgendetwas? Quatsch! Wenn dem so wäre, hätte er zumindest eine Andeutung gemacht. Oder?
Philippe gießt mir Wein nach. Ich bedanke mich mit einem stummen Nicken. Gut, dass ich heute nicht mehr selber Auto fahren muss. Ein Promill habe ich doch bestimmt schon intus.
„Du bist meiner heimlich Angebeteten ganz sicher schon begegnet“, meldet sich Jerôme. „Ich meine, sie war auf dieser seltsamen Party bei Charles Gavroche. Erinnerst du dich? Vor drei oder vier Wochen hat er seinen dreißigsten Geburtstag gefeiert.“
Ach du lieber Himmel! Charles Gavroche ist einer von Philippes Kollegen, der auch hier irgendwo im Ballsaal sitzt. Ich habe ihn einmal gesehen, er ist ein drahtiger, kleiner Kerl mit einem gigantischen Zinken im Gesicht.
„Auf Charlies Geburtstag waren mindestens doppelt so viele Leute wie hier anwesend. Wie sieht die Frau denn aus?“, fragt Philippe nach.
Jerôme schüttelt lächelnd den Kopf. „Das interessiert doch hier niemanden.“
Ausnahmsweise bin ich einer Meinung mit Jerôme, halte mich aber weiterhin bedeckt, denn ich habe den schlimmen Verdacht, dass er von niemand anderem als mir spricht. Sehr zu meinem Leidwesen komme ich nicht umhin, vor mir selber zuzugeben, dass ich mich geschmeichelt fühle.
„Wenn daraus sowieso nichts wird, weil die schöne Unbekannte bereits vergeben ist“, meldet sich Philippes Mutter zu Wort, „ist es müßig, darüber zu reden.“
Jerôme schenkt Madame Duvall ein dankbares Lächeln, was er jedoch im nächsten Moment bedauern soll.
„Hier am Tisch befinden sich genügend Damen.“ In Madame Duvalls Augen liegt derselbe schelmische Ausdruck, der mir bei meiner ersten Begegnung mit Philippe aufgefallen ist.
„Die leider alle bereits vergeben sind“, melde ich mich mutiger als mir gut tut. „Bis auf Mel. Wie wäre es, Jerôme?“
Unter dem Tisch versetzt Jane mir einen Tritt, den ich durch sämtliche Stoffschichten meines Kleides spüre.
Himmel, Herrgott, was erzähle ich denn da? Hätte ich doch nur meine Klappe gehalten! Auch Mel wäre das lieber gewesen, was man ihrer Gesichtshaut deutlich ansieht. Sie leuchtet fast so rot wie ihre Haare.
„Ihr bringt die junge Frau in Verlegenheit“, knurrt Philippes Vater. „Sie ist ganz rot geworden.“
Jetzt wird Mel noch roter. Nervös dreht sie ihr Weinglas immer im Kreis herum. Sicher würde sie genauso gern im Erdboden versinken wie ich.
Aus dem Augenwinkel heraus beobachte ich, wie Jerôme Philippe anstößt und ihm etwas ins Ohr flüstert.
„Meinem Freund gefällt, was er sieht“, sagt Philippe in verschwörerischem Tonfall.
Philippe! Was soll das denn jetzt? Mein Mann kennt keine Gnade.
Jerôme lächelt Mel mit einem Ausdruck in seinem zutiefst männlichen Gesicht zu, als bäte er sie um Verzeihung. Nicht nur Mel läuft es bei diesem vor Sex nur so strotzenden Anblick kalt und heiß den Rücken hinunter. Schnell sehe ich weg. Es ist Jerômes gutes Recht, anderen Frauen zuzulächeln. Und es ist Mels gutes Recht, sich bewundern zu lassen. Doch ich komme damit nicht klar. Ausgerechnet ich, die ich hier auf meiner eigenen Hochzeit hocke und mich nach einem anderen Mann als meinem frischgebackenen Ehemann sehne! Ich bin total wahnsinnig!
„Ich muss dann mal für kleine Mädchen“, stammele ich, als die Kellner mit dem Mokka kommen.
Sofort springt Philippe von seinem weißen Polsterstuhl auf und hilft mir beim Aufstehen.
„Ich danke dir.“ Schnell küsse ich Philippe auf die Wange. Vielleicht bringt mich das zu Verstand. Nein, tut es nicht. Der Kuss löst leider gar nichts in mir aus. Es ist, als ob
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