Im Bann der Leidenschaften
ich irgendeinen Fremden zur Brgrüßung küsse.
„Ich komme mit“, ruft Mel, die immer noch glüht.
„Ich auch“, schließt sich Mary-Beth an. Und auch Jane erhebt sich, wie ich mit Besorgnis notiere. In Janes Bewegungen liegt etwas unübersehbar Aggressives.
Zu viert durchqueren wir den Ballsaal.
„Was läuft da eigentlich zwischen dir und Mister Supersexy?“, zischt mir Jane zu, als wir auf den unendlich langen Flur treten, der nicht minder prunkvoll ausgestattet ist wie der Ballsaal.
Na bitte! Hab ich’s mir doch gedacht!
„Sprichst du von Philippe oder von Jerôme?“, entgegne ich eine Spur zu aufgekratzt.
„Halt mich nicht für blöd“, schnauzt Jane. Sie hält mich am Arm fest. Ein Schraubstock könnte nicht härter zugreifen.
„Ich muss wirklich, Jane, lass mich los!“
„Pinkel einfach auf den Boden“, entgegnet Jane, ohne ihren Griff zu lockern. „Das haben die feinen Damen zu König Ludwigs Zeiten auch getan. Die feinen Damen und die Mätressen.“
„Vorsichtig, Jane, ja?“ Ich reiße mich los. Eine Hure bin ich nicht. Nur weil die Leidenschaft ein- oder zweimal mit mir durchgegangen ist, heißt das nicht, dass sie mich so behandeln darf.
Schwungvoll reiße ich die Tür zu den Damen-Toiletten auf. Verschiedene Fliesensorten bilden ein Mosaik, das bei näherem Hinsehen das Schloss von Versailles zeigt. Zwischen den einzelnen Toilettenkabinen, die mindestens doppelt so geräumig sind wie eine normale Kabine in einem Restaurant, stehen goldene Säulen.
Eine Angestellte in Hoteluniform weist jeder von uns eine Toilette zu. Was hatte ich erwartet? Alles, was Philippe ordert, ist First Class. Nicht, dass ich etwas dagegen hätte, aber so viel Luxus verblüfft mich immer noch.
„Da läuft doch was zwischen euch“, zischt mir Jane durch die dünne Wand zwischen unseren Toilettenkabinen zu.
„Lief“, gebe ich zu, was Jane längst weiß. „Lief. Das ist Vergangenheit. Und es war ein einmaliger Ausrutscher.“ Mühsam wuchte ich das Unterteil meines Kleides so hoch wie möglich und hocke mich auf die Toilette. Hoffentlich rutscht mir das Klein nicht hinein.
„Ahnt Philippe etwas?“, will Jane wissen.
„Gott behüte!“, entfährt es mir. Oder hat Jane etwa eine diesbezügliche Ahnung?
„Philippe ist so ein netter Mann und du weißt es nicht zu schätzen! Er tut mir ehrlich leid!“, knurrt Jane.
In den Toiletten neben mir rauscht bereits die Spülung. Meine Freundinnen sind schneller als ich. Natürlich. Sie schleppen ja auch nicht drei Tonnen Kleid mit sich herum. So prachtvoll mein Hochzeitskleid ist und so wunderbar ich darin aussehe, so sehr sehne ich mich danach, es mir vom Leib zu reißen und stattdessen in ein paar Shorts und ein T-Shirt zu schlüpfen und mich irgendwo zu verkriechen. Irgendwo, wo kein Philippe und auch kein Jerôme ist. Ich ganz allein mit zwei Paketen Mini-Schoko-Küssen.
„Wie geht es dir eigentlich dabei, den ganzen Tag mit deinem Ex-Liebhaber und deinem Mann zusammen zu sein?“ Mary-Beths Stimme bebt vor Missfallen.
„Was glaubst du wohl, wie es mir dabei geht, Mary-Beth?“, knurre ich.
„Keine Ahnung. Verrat es mir.“
„Verdammt“, schluchze ich auf, „beschissen geht es mir! Was denn sonst?“ Dass ich mich hin- und hergerissen fühle, nicht mehr weiß, wo mir der Kopf steht, dass ich meinen Fehltritt zutiefst bereue und mich zugleich nach Jerômes wilder Körperlichkeit sehne, spreche ich wohl besser nicht aus.
„Müsst ihr zwei sie eigentlich so in die Zange nehmen? Glaubt ihr nicht, dass sie schon genug leidet? Annie? Willst du, dass ich zu dir reinkomme?“
Gute Mel. „Danke, Mel, es geht schon. Wenn es mir mit diesem idiotischen Kleid gelingen sollte, mich innerhalb der nächsten halben Stunde vom Klo zu erheben, komme ich lieber zu dir raus.“
„Gott sei Dank“, ruft Mel erleichtert, „du weinst nicht!“
Nein, ich weine nicht. Obwohl es mir sauschlecht geht, habe ich mein Gefühlsleben besser im Griff als mein Brautkleid. Vielleicht gelingt es mir ja sogar irgendwann, den Ausrutscher mit Jerôme zu den Akten zu legen, nicht dauernd daran zu denken. Und vor allem nicht dauernd Vergleiche zwischen Philippe und Jerôme zu ziehen, bei denen ich zu keinem klaren Ergebnis komme. Ich drücke auf den Abzieher und trete aus meiner Toilettenkabine heraus. Jane, Mary-Beth und Mel stehen vor mir wie das jüngste Gericht. Warum gehen sie nicht einfach zu den Waschbecken und ziehen sich den Lidstrich nach?
„Ich möchte nicht
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